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Können wir im Traum Probleme lösen?

Wenn ich leicht einschlief, träumte ich von eben
jenen Fragen. Viele sind mir so im Schlaf klar
geworden.

Ibn Sina

Phantasie und Realität

Im menschlichen Bewußtsein lassen sich zwei Zustände unterscheiden: ein realistischer und ein phantastischer. Beide Zustände stehen in Wechselwirkung und erlauben auf diese Art und Weise ein vertieftes Verständnis der Welt (vgl. dazu Polikarov und Tögel 1952).

Realistisches Denken wird vorwiegend im Alltagsleben geschult, wo nämlich jede Abweichung von der Wirklichkeit negative Folgen hat (vgl. S. 120ff.). Diese negativen Folgen spielen die Rolle eines Verhaltensregulators und bewirken, daß wir uns angepaßt verhalten.

Das alles betrifft den Wachzustand. Während des: Schlafs ist der Mensch aber weitgehend von der Realität abgeschnitten, und er produziert in seinen Träumen eine phantastische "Realität", in der auf die erstaunlichste Art die verschiedenartigsten Elemente verbunden werden. Das ist aber nicht nur eine Frucht der Phantasie, sondern auch ein Training der Phantasie.

Wie diese Traumphantasie Probleme löst, wollen wir an Hand einiger Beispiele zeigen.

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Ibn Sina, Kekulé, Mendelejew ...

Eine der frühesten Überlieferungen von Problemlösungen im Traum stammt von Ibn Sina (Avicenna) aus dem 10. Jahrhundert. Zwischen seinem 16. und 18. Lebensjahr beschäftigte er sich fast ausschließlich mit Logik und Philosophie. Konnte er mit einem Problem nicht fertig ' werden, ging er in die Moschee und bat Allah, er möge ihm die Augen öffnen. Dann ging er nach Hause, arbei-

Ibn Sina (Avicenna)

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tete noch weiter, trank ein wenig Wein und legte sich dann schlafen. Er träumte dann "von eben diesen Fragen", und viele sind ihm so "im Schlaf klar geworden". Ibn Sina behauptet sogar: "Auf diese Weise wurden in mir sämtliche Wissenschaften gefestigt, und ich beherrschte sie, so gut es Menschen vermögen" (Brentjes und Brentjes 1979, 5.33).

Das wohl bekannteste Beispiel einer wissenschaftlichen Entdeckung im Traum ist die der Ringstruktur des Benzols durch August Kekulé‚ von Stradonitz (1829-1896). In seinem Stuhl am Kamin eingeschlafen, träumte er folgendes:

August Kekulé von Stradonitz

"Die Atome gaukelten vor meinen Augen. Kleinere Gruppen hielten sich bescheiden im Hintergrund. Mein geistiges Auge, durch wiederholte Gesichte ähnlicher Art geschärft, unterschied jetzt größere Gebilde mannigfacher Gestaltung. Lange Reihen, vielfach dichter zusammengefügt; alles in Bewegung; schlangenartig sich windend und drehend. Und siehe, was war das? Eine der Schlangen erfaßte den eigenen Schwanz und höhnisch wirbelte das Gebilde vor meinen Augen. Wie durch einen Blitzstrahl erwachte ich; den Rest der Nacht verbrachte ich, um die Konsequenzen der Hypothese auszuarbeiten" (zitiert nach Störig l957, S. 509)

Kekulé‚ hatte sich selbstverständlich schon lange vor diesem Traum mit Fragen der Benzolstruktur beschäftigt. Und ähnlich wie es Ibn Sina beschreibt, gingen ihm ; diese Probleme ständig durch den Kopf und fanden auch Eingang in seine Träume. Die "zündende ldee" - Kekulé‚ erwachte wie durch einen "Blitzstrahl" - kam ihm, als eine der Schlangen ihren eigenen Schwanz erfaßte und so einen Ring formte. Damit hatte Kekulé‚ den Problemraum erweitert und konnte sich nun auch die Kohlenstoffatome des Benzols in ringförmiger Anordnung vorstellen.

Ein ähnliches Aha-Erlebnis im Traum hatte auch Mendelejew (1534-1907). Er beschäftigte sich schon lange mit der Aufstellung des Periodensystems der Elemente, aber es wollte ihm nicht so recht gelingen: Er versuchte

Dmitri Iwanowitsch Mendelejew

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Ordnung in die Elemente zu bringen, indem er sie nach der Größe ihrer Atome ordnete, das führte aber zu keiner brauchbaren Lösung. Eines Nachts hatte Mendelejew einen Traum, den er so wiedergab: "Ich sah im Traum die Tabelle, in der alle Elemente so verteilt waren, wie es sein mußte. Ich erwachte sofort und schrieb alles auf ein Stück Papier. Nur an einer Stelle erwies sich später eine Korrektur als nötig" (zitiert nach Pisarzhensky 1954) .

Erster Entwurf des Periodensystem durch Mendelejew

Der Schlüssel zu diesem Traum liegt in der Formulierung, daß alle Elements so verteilt waren, "wie es sein mußte". "Wie es sein mußte" heißt: verteilt nach dem Gewicht der Atome, nicht nach ihrer Größe. Die Umstrukturierung des Problemlösungsversuchs ist hier ähnlich wie bei Kekulé‚. Die Anordnung nach Größe der Atome hat zu keiner befriedigenden Lösung geführt, im Traum aber gelingt es Mendelejew den Problemraum zu erweitern und das Atomgewicht für die Anordnung der Elemente als entscheidend anzusehen.

Auch die Mathematik verdankt die Lösung eines Problems dem Traum eines der größten Talente. Henri Poincaré (1854-1912) löste das mathematische Problem der Begründung einer Klasse Fuchsscher Funktionen " im Schlaf". Die Pariser Akademie der Wissenschaften hatte 1880 einen Preis für die Lösung dieses Problems ausgesetzt. Poincaré‚ nahm an diesem Wettbewerb teil und beschäftigte sich intensiv mit der gestellten Aufgabe: "Seit 15 Tagen versuche ich zu beweisen, daß es keine Funktion geben kann, analog zu der, die ich die Fuchssche nannte. Jeden Tag saß ich am Schreibtisch. Dort verbrachte ich 1-2 Stunden und probierte eine große Anzahl von Kombinationen durch ohne Ergebnis. Eines Abends trank ich entgegen meiner Gewohnheit eine Tasse schwarzen Kaffees. Ich konnte nicht einschlafen, und viele Ideen gingen mir durch den Kopf. Ich fühlte, wie sie miteinander zusammenstießen, bis schließlich zwei von ihnen eine feste Verbindung eingingen. Am nächsten Morgen entdeckte ich die Existenz einer Klasse von Funktionen, die der hypergeometrischen

Henri Poincaré

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Reihe entsprach. Ich brauchte nur noch die Resultate aufzuschreiben, was mich nur wenige Stunden kostete" (Poincaré‚ 1970, S. 81 ).

Den entscheidenden Schritt zu seiner Entdeckung hat Poincaré‚ offenbar im Traum vollzogen: Am Abend schon kündigte sich ihm eine feste Verbindung zwischen zwei Ideen an, und am nächsten Morgen ist das Problem gelöst. Leider wissen wir hier nicht genau, wie Poincaré‚ zur Lösung gekommen ist` berichtet er doch nichts vom Inhalt seiner Träume dieser entscheidenden Nacht. Es läßt sich aber vermuten, daß es nicht viel andere Mechanismen als bei Kekulé‚ und Mendelejew gewesen sein können, die ihn zum Ziel geführt haben.

Der deutsche Ägyptologe Heinrich Brugsch-Pascha (1827-1894) hat genau beschrieben, wie er zur Lösung unklarer Textstellen im Traum kam: "Bis tief in die Nacht hinein saß ich eifrig vor meinen ägyptischen Inschriften, um beispielsweise die Aussprache und die grammatische Bedeutung eines Zeichens oder einer Wortgruppe festzustellen. Ich fand aber trotz allen Grübelns und Nachdenkens die Lösung nicht, legte mich übermüdet in mein Bett, ... um in einen tiefen Schlaf zu verfallen. Im Traum setzte ich dann die unerledigt gebliebene Untersuchung fort, fand plötzlich die Lösung, verließ sofort meine Lagerstätte, setzte mich wie ein Nachtwandler mit geschlossenen Augen an den Tisch und schrieb das Ergebnis mit Bleistift auf ein Stück Papier. Ich erhob mich, kehrte nach meiner Schlafstätte zurück und schlief von neuem weiter. Nach meinem Erwachen am Morgen war ich jedesmal erstaunt, die Lösung des Rätsels in deutlichen Schriftzügen vor mir zu sehen. Ich erinnerte mich wohl des Traumes, aber fragte mich vergebens, wie ich imstande gewesen war, in der dichtesten Finsternis deutlich lesbare Zeichen niederzuschreiben" (zitiert nach Jezower 1928, 5.228).

An diesem Beispiel ist besonders die Verknüpfung von Traum und Schlafwandeln interessant. Nach Beendigung des Traums und Aufhebung der Muskellähmung war Brugsch in der Lage, zum Tisch zu gehen und die

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Lösung niederzuschreiben. Er erinnerte sich aber nicht daran, weil die Niederschrift vermutlich in eine Tiefschlafphase fiel (vgl. dazu Jovanovic 1978, S. 1266ff.).

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Besonders informativ in bezug auf die Mechanismen, die im Traum beim Problemlösen wirksam sind, ist das Beispiel Otto Loewis (1873-1961). Er entdeckte 1921 das Azetylcholin als chemische Überträgersubstanz von Nervenimpulsen. Wie kam es dazu?

Otto Loewi

Im Jahre 1921 war die Hypothese von der chemischen Übertragung von Nervenimpulsen schon fast 20 Jahre alt. Es gab aber keinen experimentellen Beweis für sie, und bei einigen Forschern war sie schon in Mißkredit geraten. Loewi änderte die Lage entscheidend, und zwar durch ein Experiment, das ihm in zwei aufeinanderfolgenden Nächten "im Traum erschien" :

"In der Nacht vor Ostersonntag 1921 erwachte ich und wart einige wenige Notizen auf einen Fetzen dünnes Papier. Dann schlief ich wieder ein. Gegen 6 Uhr morgens wachte ich auf, und es schien mir, als hätte ich in der Nacht etwas Wichtiges aufgeschrieben. Ich konnte es aber nicht entziffern. In der nächsten Nacht, gegen 3 Uhr, kehrte der Gedanke zurück: Es war die Versuchsanordnung für ein Experiment, das entscheiden konnte, ob die Hypothese von der chemischen Übertragung richtig war. Ich stand sofort auf, ging ins Labor und machte genau nach der nächtlichen Versuchsanordnung ein Experiment am Froschherzen" (zitiert nach Geison 1973, 5.453).

Die Resultate dieses Experiments wurden zur Grundlage der Theorie von der chemischen Übertragung von Nervenimpulsen.

Aber wie war es zu den entscheidenden Träumen gekommen? Es stellte sich heraus, daß Loewi genau die Versuchsanordnung, von der er geträumt hatte, schon früher mindestens zweimal erfolgreich benutzt hatte, allerdings in einem anderen Zusammenhang. Im Wachbewußtsein gelang es ihm jedoch nicht, die Verbindung zwischen dieser Methode und der zu beweisenden Hypothese herzustellen. An dieser Stelle half ihm der Traum: Er stellte die Verbindung her, nach der Loewi tagsüber vergeblich gesucht hatte.

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Abschließen wollen wir die Reihe unserer Beispiele mit einem Traum aus der politischen Geschichte. Bismarck war seit 1862 preußischer Ministerpräsident. Die Verweigerung der Deckung der finanziellen Mehrausgaben durch die liberale Kammermehrheit löste eine Staatskrise aus. In dieser Zeit träumte Bismarck von preußischen Truppen in Böhmen (Bismarck 1898, 5.487), das ja damals österreichisch war. Für ihn war der Krieg gegen Österreich die Lösung der Krise Preußens. Im Jahre 1866 setzte er dann seinen Traum in die Tat um: Bismarck führte Krieg gegen Österreich, der siegreich endete (Schlacht bei Königgrätz) und als dessen Folge der Norddeutsche Bund als Vorstufe zum Deutschen Reich mit Preußen als Hegemonialmacht gegründet wurde.

Bei diesem Traum sind die gleichen "Mächte" im Spiel wie bei den "kriegsauslösenden" Träumen im Altertum (vgl. S. 18ff.): Die lange Beschäftigung und Suche nach Auswegen aus bestimmten schwierigen Situationen setzt sich im Traum fort. Und leider sahen (und sehen) imperialistische Politiker häufig den Ausweg im Krieg. Kriege sind aber unpopulär, und deshalb gestehen sich diese Politiker wie das Beispiel Bismarcks zeigt Kriegsabsichten im Traum eher ein als im Wachen. (Selbstverständlich ist damit nicht gesagt, daß Kriege lediglich als Folge der Absichten einzelner Herrscher oder Politiker entstehen.)

Wir wollen nun die Erkenntnis aus diesem Kapitel zusammenfassen.

Zuerst müssen wir feststellen, daß Problemlösungen im Traum keineswegs parapsychologische Erscheinungen sind. Die Lösung ergibt sich weder aus dem Nichts, noch sind irgendwelche unbekannten Kräfte im Spiel, die hell- oder voraussehen können. In allen Fällen ist es so, daß die Lösung im Traum erst dann erscheint, nachdem der Träumer sich schon lange, lange Zeit, manchmal Jahrzehnte mit dem Problem beschäftigt hat. Die Lösung wird im Traum dann erleichtert dadurch, daß die im Wachzustand vorbedachte Aufgabe anschaulich-

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symbolisch gestaltet wird. Und es ist genau die Wechselwirkung von anschaulichem und logischem Denken, die schöpferische Leistungen möglich macht (Klix 1980, S. 253ff.). Wenn also die begrifflich-logische Repräsentation eines Problems anschaulich abgebildet werden kann, führt das häufig "zur Entdeckung völlig neuer Zusammenhänge" (ebenda, 5.256). Für eine anschauliche Abbildung ist der Traum aber geradezu prädestiniert, und der "Schlangentraum" Kekulé‚s ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür. Was liegt also näher, als zu versuchen, den Traum zur Lösung wissenschaftlicher Probleme heranzuziehen? Um so mehr, als aus der Wissenschaftsgeschichte, wie wir gesehen haben, schon eine Anzahl von Beispielen spontaner Problemlösungen bekannt sind. Doch diese Versuche stecken erst in den Anfängen (vgl. dazu S. 159ff.).