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Was wissen wir heute über den Traum?

Daß die Vorgänge des Traumbewußtseins auf diese oder
jene Weise mit dem emotionellen Leben
zusammenhängen, ist in die Psychologie vermutlich
schon in der Entstehungszeit dieser Wissenschaft
eingegangen und gehört zu dem allgemein Anerkannten.
Die Bemühungen, diesen Zusammenhang zu
präzisieren, seine Gesetzmäßigkeiten zu bestimmen,
stießen auf große Hindernisse und können bis auf den
heutigen Tag nicht als abgeschlossen gelten,
ungeachtet des großen Fortschritts der Erforschung der
physiologischen Mechanismen des Schlafs in den
letzten Jahrzehnten.

Fillip Bassin

Die Arbeiten über den Traum sind heute von einem einzelnen nicht mehr zu überblicken. Gegenwärtig erscheinen etwa 5 Publikationen pro Woche, die sich mit Fragen der Traumforschung beschäftigen, und die Gesamtzahl der seit der Antike zum Thema "Traum" erschienenen Veröffentlichungen nähert sich 10000!

Bei dieser Fülle an Material ist es nicht ganz einfach auszuwählen, und die Gefahr, Wichtiges zu übersehen, ist groß. Auch läßt sich nur schwer eine Ordnung in die Darstellung bringen. Trotzdem wollen wir versuchen, die Hauptergebnisse der modernen Traumforschung in diesem Kapitel zusammenzufassen.

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Wann und wie lange träumen wir? Was passiert während des Träumens?

Wie oft hören wir Äußerungen wie "Ich träume nie , Traumschlaf erquickt nicht", "Traumloser Schlaf ist der Beste" usw. Hinter solchen Bemerkungen steht die Auffassung, daß es erstens Menschen gibt, die überhaupt licht oder zumindest weniger als andere träumen, und zweitens, daß Träume nur sporadisch, aber nicht regelmäßig im Nachtschlaf auftreten.

Wie wir jedoch schon im historischen Überblick gesehen haben, vermutete bereits Aristoteles, daß alle Menschen jede Nacht träumen. Tatsächlich wurde diese Vermutung 2300 Jahre später durch das Experiment bestätigt. Das geschah auf folgende Art und Weise:

Zwei amerikanische Wissenschaftler, Eugene Aserinsky und Nathanael Kleitman (1953), beobachteten an schlafenden Kindern, daß diese periodisch ihre Augäpfel bewegen. Diese schnellen Augenbewegungen auf englisch Rapid Eye Movements (REM) haben eine Dauer von 10 bis 50 Minuten und treten beim Erwachsenen etwa vier bis sechsmal pro Nacht auf. Die REMs lassen sich auch mit objektiven Mitteln, ähnlich dem EEG [6] und EKG [7], beobachten und aufzeichnen. Das ist möglich, weil der Augapfel elektrisch nicht neutral ist. Zwischen der Linsenseite und der Netzhautseite besteht ein Gleichspannungspotential von etwa 70 mV. Bringt man nun Ableitelektroden rings um die Augenhöhle an, so zeigt sich schon bei geringer Verstärkung der Beginn einer REM-Phase auf dem Registriergerät an, denn die Bewegungen des Augapfels bewirken an den Ableitstellen Potentialänderungen.

Weitere Untersuchungen ergaben, daß die schnellen Augenbewegungen enge Beziehungen zum Traum aufweisen. Eine Zeitlang nahm man sogar an, daß die Au-

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genbewegungen Traumszenen verfolgen. Dement und Wolpert (1958) untermauerten diese Annahme mit dem Traum einer Versuchsperson, die geweckt wurde, nachdem bei ihr eintönig hin und! her pendelnde Augenbewegungen beobachtet worden waren. Die Versuchsperson hatte geträumt, wie sich zwei Personen gegenseitig mit Tomaten bewarfen. Eine andere Versuchsperson träumte während analoger Augenbewegungen, wie zwei miteinander Tischtennis spielten. Nach Schiff und seinen Mitarbeitern (1961) besteht auch zwischen hypnotisch hervorgerufenen Träumen und den mittels der oben beschriebenen Technik registrierten Augenbewegungen eine gute Übereinstimmung.

Später wurde die Annahme einer engen Entsprechung zwischen Augenbewegungen und Trauminhalt etwas revidiert, zumal sich zeigte, daß die Rapid Eye Movements lange nicht die einzigen physiologischen Aktivitäten während des Traums sind. Jovanovic zählt außerdem folgende Erscheinungen auf (nach Jovanovic 1976, S. 367) :

Ungleichmäßigkeit im kortikalen EEG, desynchrone Entladungen über dem Hippocampus (Teil des limbischen Systems) [8]
phasische Pupillenreaktionen,
phasische Veränderungen der Blutgefäße des Gehirns,
phasische Entladungen an den Mittelohrmuskeln,
phasische Entladungen in bestimmten Gehirnbereichen,
Erschlaffung des Muskeltonus,
feine Muskelzuckungen,
Aktivierung an den Sexualorganen,
phasischer Anstieg des Blutdrucks,
phasischer Anstieg der Herzfrequenz,
phasischer Anstieg der Atmungsfrequenz.
Stellvertretend für die Vielzahl der genannten physiologischen Abläufe ist der Verlauf der Atmungsfrequenz während einer Nacht grafisch dargestellt worden

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 Durchschnittliche Atmungsfrequenz während einer Nacht

Einen entsprechenden Verlauf haben auch alle anderen oben erwähnten physiologischen Erscheinungen während einer Nacht. Es läßt sich also sagten, daß es während des Nachtschlafs mehrere Perioden komplexer physiologischer Vorgänge gibt. Wir werden diese Perioden im folgenden Aktiver Schlaf (AS) nennen.

Nach und nach wurde durch viele Experimente auch gesichert, daß genau während des Aktiven Schlafs geträumt wird. Zwar haben einige Autoren Einwände dagegen und meinen, der Mensch träume auch außerhalb der AS-Perioden. Neurophysiologische Untersuchungen zeigen jedoch, daß die hirnelektrische Aktivität während der AS-Perioden fast dem Wach-EEG gleicht. Wir können also festhalten, daß der Mensch jede Nacht vier bis sechs Perioden durchschläft in denen das passiert, was wir gemeinhin als träumen bezeichnen.

Der uns inzwischen schon bekannte Traumforscher Jovanovic machte Untersuchungen zur Entwicklung des Traumphasenanteils im Verlauf des menschlichen Lebens. Er konnte die Annahme von Kleitman bestätigen, daß sich die Dauer des Traumphasenanteils von der Geburt angefangen bis ins Alter verkürzt. Auf Grund seiner

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experimentellen Ergebnisse (s. Tab.) schlußfolgerte Jovanovic (1976, 5.414), daß ein Mensch länger als 100 Jahre leben müßte, damit sein Traumphasenanteil auf 0% absinkt. Und er stellt dann die These auf, daß der Mensch entsprechend der Abnahme des Traumphasenanteils 150 bis 200 Jahre leben könnte, schließt man alle anderen Faktoren, speziell Erkrankungen, aus.

Traumphasenanteil im Verlauf des Lebens

 
Alter Traumphasentanteil 
am Gesamtschlaf (in %)
Traumphasentanteil am 24-Stunden-Rhythmus
Frühgeborene  68,3  57,3
Neugeborene 50,0 33,0
Säuglinge (bis 5 Monate) 40,0 23,0
Säuglinge (über 5 Monate) 33,0 18,0
Kleinkinder (bis 2 Jahre) 30,0 15,6
Kleinkinder (über 2 Jahre) 25,0 12,5
Vorschulkinder 20,0 9,2
Schulkinder 19,4 8,4
10 bis 13 Jahre 18,5 7,7
Jugendliche 20,0 7,5
20 bis 49 Jahre 20,0 26,7
50 Jahre 16,0 5,0
60 Jahre 15,0 4,7
70 Jahre 14,0 4,1
80 Jahre 13,0 3,8
90 Jahre 12,0 3,5
100 Jahre 10,0 2,9
Jovanovic hat bewußt auch Frühgeborene in seine Untersuchungen eingeschlossen. Die an ihnen gewonnenen Ergebnisse sollen zeigen, daß traumähnliche Prozesse bereits vor der Geburt noch im Mutterleib ablaufen.

Wir wollen aber zu den Komponenten des Aktiven Schlafs zurückkehren. Es hat sich nämlich gezeigt, daß

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die physiologischen Aktivitäten während des Traums eine Reihe seiner Eigentümlichkeiten aufklären können.

Da sind zuerst die sogenannten Flug- oder Fallträume. Freud hielt diese Art von Träumen für wiederholte Eindrücke aus der Kinderzeit: "Welcher Onkel hat nicht schon ein Kind fliegen lassen, indem er, die Arme ausstreckend, durchs Zimmer mit ihm eilte, oder Fallen mit ihm gespielt, indem er es auf den Knien schaukelte und das Bein plötzlich streckte oder es hochhob und plötzlich tat, als ob er ihm die Unterstützung entziehen wolle" (Freud Studienausgabe, Bd. II, 5.275). Neuere Forschungen allerdings sehen zwischen Flug- und Fallträumen und der Erschlaffung des Muskeltonus einen Zusammenhang. Gleich zu Anfang der Traumphase wird nämlich die Muskulatur ausgeschaltet, die Muskeln werden "weich", und es entsteht ein Gefühl des Fallens.

Die Ausschaltung der Muskulatur scheint auch für bestimmte Typen von Angstträumen verantwortlich zu sein. Man will z. B. eine dem Traumgeschehen logisch entsprechende Bewegung machen, die Muskeln gehorchen aber nicht. So entsteht etwa das mit großer Angst verbundene Gefühl des Nicht-fliehen-Könnens.

Und schließlich ist die Erschlaffung des Muskelapparates auch dafür verantwortlich, daß wir während des Träumens nicht Schlafwandeln können. Hier offenbart sich eine Art Schutzfunktion: Es wäre nämlich recht gefährlich, wenn wir während des Träumens unseren Traumhandlungen folgen könnten. Selbstverständlich gibt es Schlafwandler; aber dieses Phänomen ist nur außerhalb der Traumphasen, z. B. in den Tiefschlafphasen zu beobachten.

Noch ein Wort zu den Alpträumen. Der Alp oder auch Alb ist nach dem Volksglauben ein Gespenst, das sich dem Schläfer auf die Brust setzt und dadurch schwere Träume verursacht. Obwohl heute kaum noch jemand an Gespenster glaubt, haben viele Menschen Alpträume. Die moderne Traumforschung sieht in den Alpträumen Angstträume von besonderer Intensität. Ihre Ursachen sind genauso unklar wie die Entstehung des Traumin-

Johann Heinrich Füssli, Nachtmahr

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halts überhaupt. Gesichert scheint lediglich, daß Menschen mit Erkrankungen der Atmungsorgane häufiger Alpträume haben als in dieser Hinsicht Gesunde. Schon vor 130 Jahren konnte Börner (1855) zeigen, daß durch das Verdecken von Nase und Mund Alpträume künstlich hervorgerufen werden können. Das alles spricht für den Zusammenhang zwischen Alpträumen und Störungen des Respirationsvorgangs.

Alfred Kubin, Schlimme Nacht

Schließlich ließen sich auch Verbindungen zwischen den oben erwähnten Aktivierungen an den Sexualorganen u d Träumen sexuellen Inhalts herstellen. Gerade bei dieser Art von Träumen ist aber das Ursache-Wirkungs-Verhältnis besonders umstritten: Träumen Männer z. B. von Sex, weil sie Erektionen im Schlaf haben, oder sind diese Erektionen Folge der sexuellen Träume?

Wir wollen diese Frage und das Geheimnis der sexuellen Träume etwas aufschieben und am Ende dieses Kapitels noch einmal darauf zurückkommen. Jetzt wollen

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wir uns der Frage zuwenden, was passiert, wenn man den Prozeß des Träumens künstlich unterdrückt.

Wenn man uns das Träumen verbietet

Weiter vorn haben wir die Hypothese von Jovanovic vorgestellt, nach der der Mensch entsprechend der Abnahme des Traumphasenanteils 150 bis 200 Jahre leben könnte. Diese Hypothese enthält indirekt die Annahme, daß der Mensch ohne Traum nicht leben kann. Zu ganz ähnlichen Schlußfolgerungen, jedoch auf ganz anderen Wegen, kam William Dement bereits im Jahre l959. Dement machte folgendes Experiment (Dement l960):

In seinem Schlaflaboratorium schliefen Versuchspersonen unter Kontrolle. Dement weckte sie jedesmal kurz vor Einsetzen der Traumphase. Damit verhinderte er, daß seine Versuchspersonen träumten. Nach dem Wecken schliefen sie wieder ein, sobald sich aber die nächste Traumphase ankündigte, wurden sie wieder geweckt. Je länger dieses Experiment nun dauerte, desto deutlichere Zeichen psychischer Störungen wie Spannung, Angst, Reizbarkeit, Störungen des Zeitsinns, Depersonalisationserleben (Gefühle und Gedanken werden nicht als eigene empfunden) zeigten sich bei den Versuchspersonen. Um auszuschließen, daß die Phänomene eine Folge des häufigen Weckens sind, wurde eine Kontrollgruppe von Versuchspersonen genauso häufig geweckt, aber erst nachdem die Traumphasen beendet waren. Diese Versuchspersonen zeigten keine der erwähnten Störungen. Nach l5 Nächten Traumentzug bestand der Schlaf der Versuchspersonen nur noch aus Aktivem Schlaf, d. h., sie gelangten überhaupt nicht mehr in Schlafphasen ohne Traum Dement hatte sie also ununterbrochen wachhalten müssen und mußte deshalb das Experiment abbrechen. In den an den Versuch sich anschließenden Erholungsnächten zeigte sich, daß der Mensch nicht nur verlorenen Schlaf, sondern auch verlorene Traumzeit nachholen muß.

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Auf Grund ähnlicher Versuche konnten Berger und Oswald (1962) zeigen, daß künstliche Traumunterdrückung regelmäßig zu Wahnerlebnissen führt.

Damit war klar, daß Träume eine lebenswichtige Funktion haben oder daß ihre Unterdrückung zumindest schwere Beeinträchtigungen des psychischen Lebens zur Folge hat. Genau das hatte Robert vor genau 100 Jahren in genialer Weise vorausgeahnt, als er schrieb: "Ein Mensch, dem man die Fähigkeit nehmen würde, zu träumen, müßte in gegebener Zeit geistesgestört werden, weil sich in seinem Gehirn eine Unmasse unfertiger, unausgedachter Gedanken und seichter Eindrücke ansammeln würde, unter deren Wucht dasjenige ersticken müßte, was dem Gedächtnis als fertiges Ganzes einzuverleiben wäre" (Robert 1886, 5.32).

Ob der von Robert angegebene Grund tatsächlich zutreffend ist, läßt sich gegenwärtig nicht entscheiden, einige Befunde sprechen jedoch für seine Richtigkeit. Psychologisch könnten die Folgen von Traumentzug dadurch geklärt werden, daß die Menschen, denen das Träumen "verboten" wurde, keine Möglichkeit haben, ihre Probleme im Traum zu verarbeiten.

Wir werden in diesem Büchlein noch zweimal auf das Problem des Traumentzugs zurückkommen: einmal im Zusammenhang mit Fragen der Verwandtschaft von Traum und Geisteskrankheit (s. S. 115ff.) und zum anderen bei der Diskussion philosophischer Fragen der Traumforschung (s. S. 15ff.).

Erinnerbarkeit von Träumen

Bis zu den Experimenten von Aserinsky und Kleitman (S. 64ff.) wurde allgemein angenommen, daß die Häufigkeit der Träume individuell sehr verschieden sei. Die Untersuchungen der beiden Amerikaner legten jedoch nahe, daß alle Menschen jede Nacht träumen. Ein anderes Forschungsteam ging nun der Frage nach der Traumerinnerung auf den Grund.

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Goodenough und seine Mitarbeiter (1959) stellten zwei Gruppen von Versuchspersonen zusammen, die sich nur in bezug auf ein Merkmal unterschieden: Die Personen der einen Gruppe konnten sich regelmäßig an ihre Träume erinnern, die der anderen Gruppe dagegen nicht. Goodenough ließ nun die Versuchspersonen beider Gruppen während des Aktiven Schlafs wecken und stellte fest, daß alle, auch die angeblichen Nichtträumer, von Träumen berichteten. Er schlußfolgerte nun, daß die sogenannten "Nichtträumer" richtiger "Nichterinnerer" genannt werden müßten.

Nachdem nun erwiesen war, daß jeder Mensch träumt, aber nicht alle sich an ihre Träume erinnern, wurde die Frage nach den Gründen des Vergessens wieder aktuell, die sich, wie wir gesehen haben, bereits Aristoteles gestellt hatte.

In diesem Zusammenhang konnte Jovanovic (1974) nachweisen, daß die Häufigkeit der Erinnerung an den Traum mit zunehmendem zeitlichen Abstand von der Traumphase abnimmt. Er hatte seine Versuchspersonen in unterschiedlichen Zeitabständen von der Traumperiode geweckt und sie nach ihren Träumen befragt. Die Tabelle zeigt die Ergebnisse:

Häufigkeit der Erinnerung an den Traum

 
 
Zeitpunkt des Weckens  Erinnerungshäufigkeit (in %)
Sofort nach Beginn der Traumphase  81,3
5 Minuten nach Beginn der Traumphase  90,2
10 Minuten nach Beginn der Traumphase 83.0
20 Minuten nach Beginn der Traumphase 94,5
Kurz nach Ende der Traumphase  53,2
5 Minuten nach Ende der Traumphase  71,9
10 Minuten nach Ende der Traumphase 53,2
20 Minuten nach Ende der Traumphase 47,1
30 Minuten nach Ende der Traumphase 8,9
Kurz vor Beginn der nächsten Traumphase  5,2
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Diese Ergebnisse zeigen ganz deutlich ein Phänomen, das wir oft genug an uns selbst erleben: Sofort nach dem Erwachen können wir uns unter Umständen noch genau an den Inhalt des eben geträumten Traums erinnern. Fragt uns jemand jedoch 2 Stunden später nach ihm, so haben wir den Traum schon vergessen.

Daß die Erinnerungshäufigkeit aber nicht nur vom zeitlichen Abstand von der Traumphase abhängt, sondern auch noch von zahlreichen anderen Faktoren, zeigen weitere Untersuchungen, von denen die meisten der Abhängigkeit der Erinnerungsfähigkeit von der Persönlichkeit des Träumers gewidmet sind. Eine Reihe von Wissenschaftlern (z. B. Lachmann 1962, Tart 1967) nehmen an, daß bestimmte Personen, sogenannte "Repressors (Unterdrücker), verstärkt dazu neigen, ihre Träume zu vergessen. Den Grund dafür sehen sie in einer bestimmten Persönlichkeitseigenschaft, die als Filter für unangenehme Träume wirkt. Diese Hypothese hat auch ihre Kritiker, die folgendermaßen argumentieren: In der Gegenwart gibt es immer weniger Leute, die sich für ihre Träume verantwortlich fühlen und somit keinen Grund haben, die Erinnerung an unangenehme Träume zu unterdrücken. Ob mit diesem Argument die Verdrängungstheorie für Träume als widerlegt angesehen werden kann, sei dahingestellt. Auf jeden Fall neigen viele Psychologen dazu, sich dem Aphorismus Nietzsches anzuschließen, der lautet: "In allem wollt ihr verantwortlich sein! Nur nicht für eure Träume! Welch elende Schwächlichkeit, welcher Mangel an folgerichtigem Mute! Nichts ist mehr Euer Eigen als eure Träume! Nichts mehr euer Werk!" (Nietzsche 1906, S.127). Und wer eine solche Einstellung seinen Träumen gegenüber hat, könnte natürlich auch leicht dazu neigen, diesen oder jenen nichtschicklichen Traum aus seiner Erinnerung zu verdrängen.

Außer der Verdrängungshypothese gibt es jedoch eine Reihe von ganz gut gesicherten Ergebnissen zur Traumerinnerung. Hier die interessantesten:

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So zahlreich aber Untersuchungen zur Traumerinnerung auch sind, vernachlässigten sie jedoch bisher einen Punkt: nämlich die Tatsache, daß die Traumerinnerung, d. h. der Inhalt des Traums, in der Regel einer zweiten Person mitgeteilt wird, ja daß häufig sogar erst eine zweite Person dazu auffordert, sich eines Traums zu erinnern. Nun kann aber nicht von vornherein erwartet werden, daß diese zweite Person wir wollen sie Empfänger der Traumerinnerung nennen keinen Einfluß auf die Mitteilung des Traums hat.

Wir sind dieser Frage nachgegangen und haben in einer umfangreichen Untersuchung festgestellt (Tögel l951), daß es in entscheidender Weise von den persönlichen Beziehungen zwischen Träumer und Empfänger der Traumerinnerung abhängt, was diesem Empfänger über die Träume mitgeteilt wird.

Das soll an einem Beispiel erläutert werden: Die Traumerinnerungen von "gemieteten" Versuchspersonen, die in Traumlabors geträumte Träume dem Versuchsleiter mitteilen mußten, enthielten wesentlich weniger Worte, d. h., die erinnerten Träume waren kürzer als die erinnerten Träume von Patienten einer Psychotherapiestation. die ihre Träume in schriftlicher Form dem ihnen bekannten und vertrauten Therapeuten vorlegen muß-

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ten. Außerdem erinnerten sich die Versuchspersonen aus dem Labor bedeutend weniger an ihre Träume als ihre "Kollegen" von der Psychotherapiestation.

Aus diesem Ergebnis haben wir die Schlußfolgerung gezogen, daß Häufigkeit und Ausführlichkeit der Traumerinnerung von dem persönlichen Verhältnis zu derjenigen Person abhängig ist, für die die Traumerinnerung bestimmt ist: Je vertrauter es ist, desto mehr Träume werden erinnert, und desto ausführlicher wird ihr Inhalt dargestellt.

Dieses Ergebnis läßt natürlich keine Entscheidung darüber zu, ob die geringere Häufigkeit und Ausführlichkeit der Traumerinnerung unter Laborbedingungen dadurch zustandekommt, weil tatsächlich weniger in die Traumerinnerung umgesetzt wird, oder ob die Barriere erst zwischen der Erinnerung und ihrer Mitteilung liegt. So ist es durchaus denkbar, daß Versuchspersonen bewußt oder unbewußt bestimmte Traumerinnerungen verschweigen und mit zunehmend enger werdendem Verhältnis zum Empfänger der Traumerinnerung mehr und mehr mitteilen.

Die wesentliche Schlußfolgerung aus dem Ergebnis unserer Untersuchung ist, daß in Traumlaboratorien unter den Bedingungen eines neutralen Versuchsperson-Versuchsleiter-Verhältnisses gewonnene Ergebnisse nicht ohne weiteres für die klinische Arbeit mit Träumen verwendbar sind. Außerdem sind Ereignisse und Theorien, die unter den Bedingungen unterschiedlicher Beziehungen von Träumer und Empfänger der Traumerinnerung gewonnen wurden, kaum vergleichbar: Theorien, die ein Therapeut auf Grund seiner klinischen Arbeit mit Träumen aufstellt, können durch Experimente in Schlaflaboratorien weder bestätigt noch widerlegt werden.

Die Tatsache, daß bei einem neutralen Verhältnis zwischen Träumer und Empfänger der Traumerinnerung weniger erinnert wird, wirft folgende Frage' auf: Welche Träume oder Traumelemente gelangen nicht in die Traumerinnerung, wenn diese für einen neutralen Versuchs-

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leiter bestimmt ist. Einen Hinweis, in welcher Richtung die Antwort zu suchen ist, gibt ein Experiment, das Rosalind Cartwright (1968) durchgeführt hat:

Einer Gruppe von männlichen Versuchspersonen zwischen 21 und 27 Jahren wurden zwei zehnminütige Filme stark sexuellen Inhalts kurz vor dem Schlafengehen vorgeführt. Als wichtigstes Ergebnis zeigte sich, daß nach dem Wecken der Versuchspersonen die Erinnerungshäufigkeit um fast 15 ¥ sank. Cartwright vermutete nun, daß der sexuelle Filminhalt in den Traum eingeht und demzufolge weniger vom Traum erinnert wird. Damit scheint die Verdrängungshypothese bestätigt.

Wollen wir also möglichst viel über das Wesen des Traums erfahren und dabei sind wir immer nur auf die Erinnerung an denselben angewiesen -, so müssen die Traumforscher danach streben, zu ihren Versuchspersonen ein enges Vertrauensverhältnis herzustellen. Denn ohne ein solches Verhältnis wird das Material, das ihnen ihre Versuchspersonen liefern, immer kärglich sein.

Riechen wir im Traum, träumen wir farbig, was träumen Blinde?

Es ist sehr schwierig, diese Fragen zu beantworten, da wir uns zwar an den Inhalt des Traums erinnern, aber selten an die Mittel, mit deren Hilfe er dargestellt wurde. Die zur Beteiligung der einzelnen Sinnesgebiete am Traum bisher angestellten Untersuchungen ergeben ungefähr folgendes Bild (nach Siebenthal 1953, S.160, s. Tab. auf S. 78).

Wir brauchen uns nicht zu wundern, daß die Prozentzahlen addiert mehr als 100 ¥ ergeben, denn Träume sind ja nicht ausschließlich optisch, akustisch usw., sondern es treten gleichzeitig mehrere Sinnesempfindungen auf. Wir können z. B. im Traum radfahren, gleichzeitig die Landschaft betrachten und auch das Hupen eines Autos hören.

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Beteiligung von Sinnesgebieten am Traum
   
Sinnesgebiet Beteiligung am Traum (in %)
Optisch (Gesichtssinn) etwa 85
Akustisch (Gehör)  etwa 55
Kinästhetisch (Bewegungsempfindung) etwa 12
Taktil (Tastsinn) etwa 10
Olfaktorisch (Geruchssinn) etwa 4
Gustatorisch (Geschmackssinn etwa 4
Die schwierigste Frage aus diesem Bereich scheint die Frage nach der Farbigkeit der Träume zu sein. Manche Autoren meinen, Träume seien ausschließlich farbig; manche meinen nur 60%; dritte wallen überhaupt keine Aussage zu diesem Problem machen. Der sowjetische Kosmonaut W. I. Sewastjanow antwortete auf die Frage eines Journalisten, ob er farbig träume: "ich träumte noch kein einziges Mal bunt" (in Prawda vom 18.4.1971 ). Andere Leute behaupten, daß sie nur bunte Träume haben.

Der Wahrheit am nächsten kommen wohl die sowjetischen Wissenschaftler Mjassnikow und Uskow (ebenda). Sie meinen, daß es von der Persönlichkeit des Träumers abhänge, ob er farbig oder schwarz-weiß träumt. So zeugten farbenprächtige Träume in der Regel von einem künstlerischen, bildlichen Charakter des Denkens und von allegorischer Betrachtung der Welt. Schwarz-weiß-Träume seien dagegen eher charakteristisch für rationale Menschen. Mjassnikow und Uskow deuten auch das konstante Auftreten ein und derselben Farbe in den Träumen eines Menschen bzw. den häufigen Farbwechsel. Im ersten Fall lasse sich auf stabile psychische Verhältnisse, im zweiten auf eine eingetretene psychische Wandlung schließen. Die beiden sowje-

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tischen Autoren deuten auch bestimmte Farben auf bestimmte Art und Weise: Grün z. D. sei Ausdruck von psychischem Wohlergehen und seelischem Gleichgewicht. Ein Übergewicht von schwarzen und roten Tönen im Traum lasse dagegen auf sorgenvolle Erlebnisse schließen.

Den Träumen von Blinden ist von jeher große Aufmerksamkeit gewidmet worden. Wir hatten schon gesehen, daß der Araber Safadi im Mittelalter Hypothesen über die Träume von Blinden aufgestellt hatte (vgl. S. 30). Safadis Auffassung hat durch Berger und seine Mitarbeiter (1962) eine glänzende Bestätigung gefunden: Das Forscherteam hatte drei Gruppen von Personen untersucht. Die Personen der ersten Gruppe waren von Geburt an blind, die der zweiten seit der frühen Kindheit, und die der dritten erblindeten in einem Alter von etwa 40 Jahren. Berger und seine Mitarbeiter fanden nun, daß die Personen aller Gruppen träumten, aber nur die der zweiten und dritten Gruppe optische Träume hatten. Außerdem zeigte sich, daß bei sekundär Erblindeten nach etwa 40 Jahren keine visuellen Träume mehr auftreten.

Wovon träumen wir?

In dem Bestreben, konkrete und vor allem statistisch verwertbare Aussagen über den Trauminhalt zu erhalten, begann man in den sechziger Jahren sogenannte Contentanalysen (Inhaltsanalysen) von Träumen durchzuführen. Die bekannteste und am breitesten angelegte Contentanalyse stammt von Hall und van de Castle (1966). Sie haben u.a. 1000 Träume, 500 von Frauen und 500 von Männern, hinsichtlich der Häufigkeit der in ihnen vorkommenden Objekte ausgewertet. Als Ergebnisse erhielten sie 1170 Objekte, die mit unterschiedlicher Häufigkeit in den Träumen auftraten. Hier die 10 häufigsten:

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1. Haus in 160 Träumen
2. Auto in 149 Träumen
    Straße in 149 Träumen
3. Stadt in 128 Träumen
4. Zimmer in 125 Träumen
5. Zuhause in 118 Träumen
6. Tür in 108 Träumen
7. Stufen in 74 Träumen
8. Gebäude in 63 Träumen
9. Wasser in 62 Träumen
    Fenster in 62 Träumen
10. Hand in 59 Träumen

Der wissenschaftliche Wert solcher Untersuchungen ist allerdings zweifelhaft. Die Ergebnisse lassen sich kaum verallgemeinern, sondern gelten eben nur für die untersuchte Gruppe, in diesem Fall US-Amerikaner. Bei Eskimos oder Buschmännern dürften Autos kaum den zweiten Platz einnehmen.

Es sind aber auch Contentanalysen durchgeführt worden, bei denen nicht Objekte, sondern bestimmte Verhaltensweisen, Triebe oder ähnliches gezählt wurden. Jorswieck (1966) hat u. a. die Häufigkeit von sexuellen und aggressiven Bedürfnissen in 1000 Träumen ermittelt (in 350 Träumen trat Aggression, in l24 Sexualität auf). Diese Art der Inhaltsbestimmung ist psychologisch gesehen natürlich interessanter, bezieht sie doch den Sinn des Traums in ihre Überlegungen ein. Natürlich hat auch dieses Vorgehen seine Probleme, sind doch die vom Experimentator ausgewählten Bereiche theorieabhängig, d. h., sie werden vom Standpunkt des Experimentators beeinflußt. Jemand, der nicht viel von Psychoanalyse hält, würde kaum vorwiegend nach aggressiven oder sexuellen Bedürfnissen in Träumen fahnden.

Unter bestimmten Gesichtspunkten durchgeführt, sind Contentanalysen sehr aufschlußreich und liefern wichtige Ergebnisse. Domhoff und Kamiya (1964) haben z. B. Träume, die zu Hause geträumt wurden, mit Labor-

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träumen verglichen und festgestellt, daß etwa ein Drittel der Laborträume wenigstens ein Element der Versuchssituation enthält(t, d. h., daß die experimentelle Situation den Trauminhalt beeinflußt. Das zu wissen ist von großer Wichtigkeit, denn die Mehrzahl aller Erkenntnisse über den Traum werden heute aus Experimenten im Labor gewonnen.

Im Grunde genommen haben contentanalytische Untersuchungen von Trauminhalten die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt. Es hat sich gezeigt, daß das einfache Auszählen von Traumelementen wenig Aussagekraft hat. Zudem sind die Ergebnisse von Contentanalysen so gut wie nicht verallgemeinerbar, und darum gibt es in den letzten Jahren kaum noch Untersuchungen dieser Art.

Wovon träumen wir? Wenn wir diese Frage stellen von der übrigens such die contentanalytischen Untersuchungen angeregt worden sind -, so denken wir weniger an einzelne Objekte wie Häuser oder Autos, sondern an die Frage, wovon unser Trauminhalt beeinflußt wird, was die Ursache für dieses oder jenes Traumbild ist. Der Frage der Abhängigkeit und Beeinflußbarkeit des Trauminhalts wollen wir uns nun zuwenden; das Problem der Entstehung des spezifischen Trauminhalts ist dagegen nach wie vor ungeklärt, und die Freudsche Traumtheorie ist immer noch so gut wie ohne Konkurrenz bei der Hypothesenbildung auf diesem Gebiet.

Wovon hängt der Trauminhalt ab, läßt gar sich beeinflussen?

Der Frage, von welchen Faktoren der Trauminhalt beeinflußt wird, sind die meisten Untersuchungen und Experimente gewidmet. Allerdings gibt es bisher kaum gesicherte Ergebnisse. Das liegt hauptsächlich daran, daß es bis jetzt noch kein geeignetes Instrument gibt, das den Trauminhalt "messen" kann, wie etwa ein Apparat zur Blutdruckmessung den Blutdruck mißt. Da ist es re-

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lativ einfach festzustellen, ob z. B. auf starke Erregung eine Blutdruckerhöhung erfolgt oder nicht. Aber beim Traum? Wann träumt ein Mensch "anders" als im Normalfall? Wann sind Träume überhaupt "normal"?

Die Festlegung einer Norm, eines Standards ist aber eigentlich Voraussetzung für Untersuchungen über Einflüsse auf den Trauminhalt. Eine solche Festlegung ist u. a. das Ziel contentanalytischer Untersuchungen gewesen. Es wurden aber auch Skalen entwickelt, mit deren Hilfe der Trauminhalt objektiv eingeschätzt werden sollte. Aber keine der bisher entwickelten Skalen konnte sich international durchsetzen.

Trotz dieses unbefriedigenden Zustands gibt es eine Unmenge von Untersuchungen zum Einfluß von Persönlichkeit, Geschlecht, Alter, Ereignissen der Kindheit oder der jüngeren Vergangenheit des Träumers usw. auf den Trauminhalt. Die Ergebnisse sind zum Teil widersprüchlich, doch seien die am meisten beachteten hier vorgestellt.

Den Einfluß der Persönlichkeit auf den Trauminhalt wollen wir hier nicht diskutieren, sondern wir werden erst im Kapitel "Träume in Psychotherapie und Psychiatrie" auf ihn eingehen, da die angestellten Untersuchungen sich hauptsächlich auf neurotische und psychotische Personen beschränken.

Die Aussagen über den Zusammenhang zwischen Geschlecht und Trauminhalt beruhen weitgehend auf contentanalytischen Untersuchungen; deshalb gelten dafür auch die gleichen Bedenken. In der schon erwähnten Untersuchung von Hall und van de Castle ist die contentanalytische Auswertung der Träume getrennt nach dem Geschlecht vorgenommen worden. Danach träumen Männer zwölfmal häufiger von Hochstraßen, elfmal weniger von Schlafsälen und zehnmal häufiger von Häusern als Frauen. In einer anderen Untersuchung aus dem Jahre 1973 von Vahle-Schmidt sind ebenfalls die Träume von Männern und Frauen getrennt ausgewertet worden. Dabei sind nicht einzelne Traumelemente ausgezählt worden, sondern es ging um ganz bestimmte Fragestel-

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lungen. Bei folgenden Merkmalen lieferte diese Untersuchung eindeutige Unterschiede:

Die angegebenen Prozentzahlen gelten natürlich nur für die untersuchte Gruppe, aber auch andere Versuche konnten zumindest die in ihnen ausgedrückte Tendenz bestätigen.

Besondere Aufmerksamkeit und zahlreiche Untersuchungen sind dem spezifischen Einfluß der Menstruation auf den Trauminhalt gewidmet worden. Ein amerikanisches Team hat z. B. drei Monate lang die Träume von jungen Frauen gesammelt und anschließend deren Träume während der Menstruation mit denen der mensesfreien Wochen verglichen. Als Ergebnis zeigte sich, daß während der Menstruation bedeutend häufiger von sexuellen Themen geträumt wird als sonst.

Viele Traumforscher haben sich auch nach dem Einfluß von Reizen während des Schlafs auf den Trauminhalt gefragt. Die bekanntesten Experimente sind die von Maury (vgl. S. 31 f.). Er schlußfolgerte aus diesen Versuchen, daß Reize, die auf den Schläfer einwirken, Träume auslösen können. Diese Auffassung konnte sich über 100 Jahre bis in die Mitte unseres Jahrhunderts halten. Seit man aber weiß, daß Träume periodisch während des Aktiven Schlafs auftreten, wird diese Theorie zunehmend skeptisch beurteilt. Den Reizen wird nicht mehr die Rolle des Auslösers von Träumen zugeschrieben, sondern es wird angenommen, daß äußere Reize nur in

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den bereits ablaufenden Traum eingebaut werden; d. h., wenn Reize nicht in die Periode des Aktiven Schlafs fallen, können sie auch keine Träume auslösen.

Reize während des Schlafs kommen aber nicht nur von der Außenwelt, sondern können auch von inneren Organen ausgehen. Nach Pythagoras und Hippokrates (vgl. S. 23ff.) gibt es "Körperreizträume". d. h., unangenehme Körpergefühle lösen schwere Träume aus. Auch Freud widmete diesem Problem einen ganzen Abschnitt seiner Traumdeutung und kam zu der Schlußfolgerung, daß Körperreize nur Einfluß auf den Trauminhalt haben, wenn dieser Ansatzpunkte dafür bietet. Im Prinzip gilt für Körperreize das gleiche wie für Reize aus der Außenwelt: Sie können wohl in den bereits ablaufenden Traum eingebaut werden, können ihn aber nicht auslösen. Eine volle Blase kann also keinen Traum hervorrufen, wohl aber den Träumer z. B. nach einer öffentlichen Toilette suchen lassen, während er träumt, durch die Stadt zu bummeln. Oder Atembeschwerden während des Schlafs können den Traum beklemmend werden lassen (Alptraum), ihn aber nicht hervorrufen.

Um besser kontrollieren zu können, was wirklich geträumt wird, und um Einfluß auf die Art des Trauminhalts zu erhalten, kam man um die Jahrhundertwende auf die Idee, die Hypnose zur Hervorrufung bestimmter Trauminhalte zu benutzen. Das geschieht folgendermaßen: Während der hypnotischen Sitzung erhält die Versuchsperson genaue Instruktion, was sie in der Nacht zu träumen hat. Diese Methode wurde viel angewendet, war aber auch heiß umstritten. Man bezweifelte, ob solche posthypnotischen Aufträge tatsächlich Einfluß auf den Trauminhalt haben und ob auch wirklich das geträumt wird, was in der Hypnose suggeriert worden ist.

Nach fast einem dreiviertel Jahrhundert solcher Diskussionen gelang es, die Zweifel aus dem Weg zu räumen: Jus und seinem Team (1975) gelang es mit Hilfe des EEGs nachzuweisen, daß posthypnotische Aufträge tatsächlich Einfluß auf den Traum haben: Eine Versuchspersonen erhielten folgende Instruktion: "Sie wer-

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den in einen tiefen Schlaf fallen und um drei Uhr aufwachen und sofort wieder einschlafen." Weiterhin wurde suggeriert, vor drei Uhr nicht zu träumen, aber nach drei Uhr. Nach einigen Experimentalnächten wurden die EEG-Muster mit denen von den Nächten der gleichen Versuchspersonen ohne posthypnotischen Auftrag verglichen. Es zeigte sich, daß nach dem posthypnotischen Auftrag die Länge der Perioden Aktiven Schlafs vor drei Uhr signifikant (d. h. bedeutend) kürzer waren als ohne Auftrag. Nach drei Uhr zeigten die EEG-Muster keine Differenzen mehr.

Jovanovic erbrachte dann den Nachweis, daß auch tatsächlich das geträumt wird, was suggeriert worden ist. Er hatte als Versuchspersonen zwei Männer, die beide im zweiten Weltkrieg in derselben Gegend waren. Der eine träumte von den Kriegsereignissen, und Jovanovic nahm den Traumbericht auf Tonband auf und Spielte das Band während der AS-Periode dem anderen Mann vor. Jovanovic schreibt dann weiter: "Nach Beendigung dieser Traumphase weckten wir den Schläfer, und er gab als seinen Traum wortwörtlich den Text des Tonbandes wieder" (1978, S.1274).

Dieser Nachweis, daß der Trauminhalt von außen suggeriert werden kann, hat besondere Bedeutung für die Erforschung des Mechanismus des Vergessens von Träumen oder Traumteilen: Man kann bestimmte Trauminhalte suggerieren und überprüfen, ob die Erinnerungsfähigkeit u. a. auch vom Trauminhalt abhängt, d. h., ob möglicherweise Träume unangenehmen oder anstößigen Inhalts bevorzugt vergessen werden, wie es das Experiment von Rosalind Cartwright (vgl. S. 77) vermuten läßt.

In letzter Zeit werden zunehmend Versuche zum Einfluß bestimmter Medikamente auf Länge und Inhalt des Traums durchgeführt. Solche Untersuchungen sind tatsächlich von nicht geringer Bedeutung, da die Einnahme besonders von Psychopharmaka, d. h. von Medikamenten, die Stimmungslage und psychische Verhaltensweise beeinflussen, ständig zunimmt. Als Ergebnis solcher

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Untersuchungen ergab sich, daß nach Einnahme von Thymoleptika, d. h. von Medikamenten mit antidepressiver und aktivierender Wirkung, die Häufigkeit von Flug- und Fallträumen zunimmt. Erklärt werden kann das dadurch, daß diese Medikamente eine Lockerung der Muskulatur hervorrufen und damit die ohnehin schon eintretende Erschlaffung des Muskeltonus während der Traumphasen verstärken. Außerdem wurde festgestellt, daß Thymoleptika zu einer Häufung von Alpträumen führen.

Ein bestimmtes Medikament, das Amphetamin, ebenfalls mit erregender Wirkung, wirkt sich auf den Trauminhalt dahingegen aus, daß er lebhafter und phantastischer wird. Die Ursache dafür liegt in der vom Amphetamin ausgehenden verstärkenden Wirkung des Noradrenalins, eines Hormons, das höchstwahrscheinlich für den Traumanteil des Schlafs mitverantwortlich ist.

Eine große Anzahl experimenteller Untersuchungen sind mit LSD (Lysergsäurediathylamid) gemacht worden. ; Es scheint so, daß diese Droge zu einer Verkürzung des Traumphasenanteils am Schlaf führt.

Die Fragestellungen in diesem Bereich der Forschung sind jedoch überwiegend physiologisch, d. h., nach dem Einfluß von Medikamenten auf den Trauminhalt wird weniger gefragt. Es interessiert viel mehr ihre Wirkung auf die Länge der AS-Perioden, auf das EEG-Muster u. a. m. Eine Aufhellung der psychologischen Mechanismen des Traumgeschehens konnte ohnehin von dieser Art Untersuchungen nicht erwartet werden.

Die interessanteste Frage in bezug auf Traummaterial und Traumquellen bleibt immer noch die nach der Rolle der Tagesereignisse für die Bildung des Trauminhalts. Nach Freud gilt es als "unbestrittene Erkenntnis , daß alles Material, das den Trauminhalt zusammensetzt, aus Erlebtem stammt und im Traum reproduziert, erinnert wird. Diese Erkenntnis ist der auf den Traum angewandte Grundsatz des Sensualismus: "Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu" (Nichts ist im Geist, das nicht vorher in den Sinnen war).

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Es hat nun nicht an Versuchen gefehlt, den Zusammenhang zwischen Tagesereignissen, also sinnlich Wahrgenommenem, und dem Trauminhalt zu untersuchen. Die Experimente, Hypothesen und Theorien bewegen sich im wesentlichen um drei Fragen:

1. Wie lange kann Erlebtes den Trauminhalt beeinflussen?
2. Werden bestimmte Elemente des Tageserlebens bevorzugt in den Traum aufgenommen bzw. bestimmte Elemente bevorzugt weggelassen?
3. Gibt es Regeln (Gesetze) für die Umsetzung des am Tage Erlebten in den Trauminhalt, und wenn ja, wie sehen diese Regeln (Gesetze) aus?
Die Beschäftigung mit diesen Fragen macht im wesentlichen die psychologisch orientierte Traumforschung aus. Wir wollen diese drei Fragen und die entsprechenden Antwortversuche getrennt behandeln.

1. Wie lange kann Erlebtes den Trauminhalt beeinflussen?

Freud war der Meinung, daß im Traum Eindrücke aus den frühesten Lebensaltern erscheinen können und daß in jedem Traum eine Anknüpfung an die Erlebnisse des letzten Tages zu finden ist. Die erste Behauptung ist schwer zu beweisen. In der Regel werden zu ihrer Unterstützung Fallbeispiele angeführt. Besonders eindrucksvoll in dieser Hinsicht ist das schon erwähnte Buch "Schlüssel des Glücks" von Soschtschenko, in dem der Autor schildert, wie er in seinen Träumen Motive sogar aus dem Säuglingsalter erkennt und mit deren Hilfe seine psychische Krankheit überwindet.

Für die Richtigkeit der zweiten Annahme spricht ; eine Reihe von experimentellen Ergebnissen, die nachweisen, daß in Träumen, die der Versuchssituation folgen, regelmäßig Elemente der Versuchssituation enthalten sind. Die Versuchssituation ist aber nichts anderes als ein Element des letztabgelaufenen Tages.

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Überblickt man die Ergebnisse der nun schon fast ein Jahrhundert andauernden Forschungen zu dieser Frage, so zeichnet sich folgende Erkenntnis ab:

Einmal Erlebtes und im Gedächtnis Gespeichertes steht im Prinzip immer für den Traum zur Verfügung. Die Wahrscheinlichkeit jedoch, daß es auch tatsächlich für den Traum verwendet wird, ist um so größer, je weniger Zeit zwischen dem Erlebten und dem Traum vergangen ist. Aus diesem Grund findet sich in der Tat fast regelmäßig etwas vom vergangenen Tag in unseren Träumen. Natürlich sind es meistens auch die Probleme des letzten Tages, die uns am meisten beschäftigen; was vor 4 Wochen oder vor 2 Jahren war, ist uns viel gleichgültiger, von der frühen Kindheit ganz zu schweigen.

2. Werden bestimmte Elemente des Tageserlebens bevorzugt in den Traum aufgenommen bzw. bestimmte Elemente bevorzugt weggelassen?

Bei dieser Frage, d. h. bei ihrer Beantwortung, gehen die Meinungen extrem auseinander. Die einen meinen, im Traum erschienen vorwiegend unbedeutende Tagesereignisse, andere dagegen behaupten, daß das Gehirn im Traum mehr Möglichkeiten habe, sich auf tagsüber angehäufte Probleme zu konzentrieren (Jovanovic). Schon ú Herodot hatte vor fast 2500 Jahren diese Meinung vertreten (vgl. 5.23), und Robert hielt es sogar für die Hauptfunktion des Traums, am Tage unerledigt Gebliebenes zu verarbeiten. Tatsächlich spricht vieles dafür, daß die Dinge, die den Menschen am Tage hauptsächlich beschäftigen, auch im Traum einen breiten Raum einnehmen (vgl. dazu S. 94ff.). Ob jedoch bestimmte Elemente des Tageserlebens bevorzugt weggelassen werden, d. h. im Traum nicht erscheinen, ist zwar Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen aber bisher auch noch nicht im Ansatz geklärt. Das Problem besteht darin, daß sich nicht eindeutig entscheiden läßt, ob bestimmte Elemente überhaupt nicht im Traum erscheinen Oder ob sie bloß vom Träumer nicht erinnert werden.

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3. Gibt es Regeln (Gesetze) für die Umsetzung des am Tage Erlebten in den Trauminhalt, und wenn ja, welches sind diese Regeln (Gesetze)?

Das Problem, daß durch diese Frage umrissen wird, ist das wohl unklarste, bildet aber zugleich den Kernpunkt der modernen Traumforschung. Im 19. Jahrhundert war unter Medizinern, aber auch unter Psychologen die Meinung weit verbreitet, daß der Traum nichts weiter als eine sinnlose Tätigkeit des Gehirns sei. Noch die meisten medizinischen Zeitgenossen Freuds hielten den Traum für eine Art Zuckung des sonst schlafenden Seelenlebens. In modifizierter Form wird diese Meinung bis heute vertreten. Ihre bekanntesten Exponenten sind MacCarley und Hobson. Ein Artikel im "Spiegel" vom 28. 4. 1980 über ihre Theorie trägt die bezeichnende Überschrift: "Träume: Wirr wie ein Stück von Beckett" (zur Theorie von MacCarlay und Hobson vgl. S. 60f. Und S. 153ff.).

Es ist klar, daß von einem solchen Standpunkt aus die Frage nach den Regeln der Umsetzung von Tageserleben in den Trauminhalt gegenstandslos ist. Sie entsteht erst dann und erhält Bedeutung, wenn man Träume nicht für sinnlos hält, ihren Inhalt aber trotzdem nicht erklären kann. Der erste und bisher umfassendste Versuch einer Aufstellung von Regeln ist die Traumtheorie Freuds. Seine Regeln (hauptsächlich Verdichtung und Verschiebung, auch Symbolbildung) beziehen sich auf das Verhältnis von latenten Traumgedanken und manifestem Trauminhalt. Da für Freud aber die latenten Traumgedanken zum größten Teil aus "Tagesresten" bestehen, beschreiben seine Regeln die Traumarbeit die Umsetzung von Tageserleben in den Traum bzw. die Traumerinnerung.

Die Situation der "Wissenschaft vom Traum" ist also tragisch: Auf ihre zentrale Frage gibt es keine gesicherte Antwort. Hier wird natürlich auch der Leser enttäuscht, der sicher eine Antwort auf gerade diese Frage

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erwartet hat. Diese unbefriedigende Lage erklärt aber auch manches, z. B. die Tatsache, daß trotz vieler und begründeter Kritiken und sogar trotz teilweiser Widerlegungen der Freudschen Traumtheorie immer noch so viel Interesse entgegengebracht wird: Solange man keine vernünftige Ersatztheorie hat, muß man sich mit der alten zufriedengeben, oder wie Thomas Kuhn sich ausdrückt: Bei Regen ist ein Dach mit Löchern besser als gar keins.

Sexuelle Träume

Zuerst muß hier unterschieden werden zwischen Träumen, in denen Sexuelles unverhüllt zum Ausdruck kommt, und solchen, die nach Meinung dieser oder jener Traumtheorie Sexuelles in symbolischer oder anderweitig verschlüsselter Form zum Inhalt haben.
 

Wir wollen mit der Erörterung der zweiten Form beginnen. Hier geht natürlich viel auf Freud zurück, obwohl wir schon Gelegenheit hatten, darauf hinzuweisen, daß der Vorwurf, Freud deute alle Träume auf ausschließlich sexuellem Hintergrund, nicht berechtigt ist.

Freuds Ausgangspunkt bei der sexuellen Interpretation von Träumen war die Tatsache, daß in der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit die Sexualität weitgehend tabu war. Das galt sowohl für die Öffentlichkeit als auch für das Privatleben. Über Sexualität sprach man nicht, und Wünsche in dieser Richtung zu haben war schon gänzlich unschicklich. Da aber Freud davon überzeugt war, daß im Inneren der Persönlichkeit sexuelle Triebe , wie er es nannte, vorhanden sind, fragte er sich, wie sie zum Ausdruck kommen. Eine Ausdrucksform sah er in Träumen. Da aber auch hier noch gesellschaftliche Normen in Form der Traumzensur wirkten, glaubte Freud, daß viele sexuelle Dinge im Traum durch Symbole ausgedrückt werden, die die Traumzensur anstandslos passieren können. So hielt er z. B. Stöcke, Baumstämme, Schirme, Messer, Dolche für symbolhafte Darstellungen

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des männlichen Glieds. Dosen, Schachteln, Kästen, Schränke und Öfen entsprechen nach Freuds Verständnis dem weiblichen Körper. Auch Zimmer symbolisierten weibliche Personen. Da Zimmer verschiedene Eingänge und Ausgänge haben und auch die Umgangssprache das Wort "Frauenzimmer" kennt, hielt sich Freud zu dieser Deutung für berechtigt.

Selbstverständlich kann man hier viele Einwände vorbringen, und solche Art von Traumdeutung führt schnell zur Scharlatanerie, wenn man nicht die Einschränkungen beachtet, die Freud selbst formuliert hat (vgl. dazu S. 47f.). Dazu zwei Beispiele: In dem Buch "Die Deutung erotischer Träume" von Lintener-Fabian (1970) erfährt man, daß das Träumen von Fingernägeln mit schwarzem Rand auf Hemmungen im sexuellen Bereich hinweise, daß der wieder ins Wasser geworfene Fisch (weil er zu klein war) auf unbefriedigende sexuelle Erlebnisse schließen lasse usw. usf. Aber auch in Fachzeitschriften finden sich zahlreiche Beispiele solcher hemmungslosen Deuterei. Der inzwischen verstorbene Alexander Mitscherlich, ein anerkannter Fachmann auf dem Gebiet der psychosomatischen Medizin, schreibt über den Traum Kekulé‚s, der den letzten Anstoß zur Entdeckung der Ringstruktur des Benzols gab (vgl. dazu S. 94ff.), daß dieser die sexuellen Wünsche des Junggesellen Kekulé‚ zutage fördere (Mitscherlich 1972, S. 649).

Wir wollen die Reihe solcher unerfreulichen Beispiele nicht fortsetzen, sondern zu den Träumen übergehen, in denen Sexuelles ohne jede Verschlüsselung zum Ausdruck kommt. Solche Träume sind gar nicht so sehr selten. Treten sie auf, verstärken sie die ohnehin während der Traumphasen auftretenden Erektionen des männlichen Gliedes bzw. der weiblichen Klitoris. Jovanovic, der diese Untersuchungen durchgeführt hat, erwähnt auch Beispiele dazu: Ein junger Mann träumt von Gruppensex mit ein paar jungen Frauen. Während er gerade damit beschäftigt war, eines der Mädchen zum Orgasmus zu bringen, wurde er geweckt. Die Erektionen dieses Mannes während des Traums waren bedeutend stärker als

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die gewöhnlich beobachteten. Ähnliches zeigt sich auch bei Frauen: Während sexueller Träume sind die Kontraktionen der Scheide besonders ausgeprägt und die Erektionen der Klitoris besonders stark.

Frans Masereel. Der Traum des Mädchens. Grafische Darstellung eines unverhüllten sexuellen Wunschtraums

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Das überraschende Ergebnis der Untersuchungen zur Kontrolle der Aktivierung der Sexualorgane während des Traums ist jedoch die folgende Beobachtung: Die Erektionen von Glied und Klitoris sind nicht nur bei direkt oder offen sexuellen Träumen besonders stark, sondern auch dann, wenn in den Träumen sexuelle Symbole, wie sie u. a. von Freud behauptet wurden, auftraten (Jovanovic 1972). Dieses Ergebnis zeigt, daß wir zumindest im Unbewußten mit den von Freud angeführten Gegenständen etwas Sexuelles verbinden. Wie diese Verbindung zustande gekommen ist, darüber wird vorläufig noch spekuliert.