- 35 -

Sigmund Freuds Traumtheorie

ln allgemeiner Übereinstimmung wird behauptet,
daß die Traumdeutung der Grundstein der
psychoanalytischen Arbeit ist, und daß ihre
Ergebnisse den wichtigsten Beitrag der Psychoanalyse
zur Psychologie darstellen.

Sigmund Freud

Wer war Sigmund Freud?

Sigmund Freud wurde am 6. Mai 1856 im mährischen Freiberg (heute: Pribor, etwa 30 km südwestlich von Ostrava, CSSR geboren. Sein Vater, Jakob Freud, war Stoffhändler; wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage verließ er 1859 Mähren und zog mit seiner Familie über Leipzig nach Wien. Mit neun Jahren tritt Freud ins Leopoldstädter Kommunalreal- und Obergymnasium ein, und 1873 besteht er das Abschlußexamen mit Auszeichnung. Unter dem Einfluß von Goethes Schrift "Die Natur" beschließt er, Medizin zu studieren. Fast acht Jahre bleibt Freud an der Wiener Universität und beschäftigt sich dort vorwiegend mit Physiologie, Gehirnanatomie und Neurologie. Während dieser Zeit erschienen mehrere seiner Arbeiten über die Anatomie des Rückenmarks. Ab 1882 praktiziert Freud als Arzt am Wiener Allgemeinen Krankenhaus, und 1885 wird er Privatdozent für Neuropathologie. Ein Jahr später eröffnet er seine eigene Praxis. Zu dieser Zeit galt Freud durch über zwanzig Veröffentlichungen schon als bekannter Neurologe. Für die Psychiatrie interessierte er sich kaum. In den nächsten Jahren folgten noch bedeutende Arbeiten

Sigmund Freud

- 36 -

über Aphasie (Störungen des Sprechvermögens und des Sprachverständnisses) und Kinderlähmung. Allein diese Arbeiten hätten ausgereicht, um nach den Worten des Schweizer Neurologen Rudolf Brun "Freuds Namen in der klinischen Neurologie einen bleibenden Platz zu sichern (Brun 1936, S. 205).

Das Interesse Freuds an Psychologie und Psychiatrie entwickelte sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit war Freud mehrfach in Frankreich, um die Hypnose kennenzulernen. Im Jahre 1887 begann er selbst seine Patienten mit Hypnose zu behandeln. Später gab er dieses Verfahren auf – warum, werden wir noch sehen -, griff zu anderen Methoden und gelangte zur Traumbearbeitung bei der Krankenbehandlung.

Im November 1899 erschien dann Freuds erstes großes psychoanalytisches Werk "Die Traumdeutung" (vordatiert auf das Jahr 1900).

Titelblatt der "Traumdeutung"

In den letzten 39 Jahren seines Lebens veröffentlichte Freud dann noch 231 Arbeiten. Die meisten von ihnen waren der psychoanalytischen Theorie und Krankenbehandlung gewidmet, ein großer Teil aber auch der Anwendung der Psychoanalyse auf Kultur und Gesellschaft. Mit diesem Schritt von der Individual- zur Massenpsychologie vollzog Freud auch den Übergang von der Naturwissenschaft ZU einer ahistorisch-idealistischen Weltanschauung. Trotz der Fragwürdigkeit von Freuds Gesellschafts-, Kultur- und Religionskritik sei hier kurz auf zwei Veröffentlichungen aus diesem Bereich eingegangen: In dem im Jahre 1933 in Paris publizierten Briefwechsel zwischen ihm und Einstein diskutiert Freud Möglichkeiten der Kriegsverhütung und warnt, daß ein kommender Krieg möglicherweise die Menschheit vernichten wird. Freud beendet seinen Brief dann mit dem Satz: "Alles, was die Kulturentwicklung fördert, arbeitet gegen den Krieg" (Freud , Studienausgabe, Bd. IX, S. 286). Kritisch war auch Freuds Einstellung zur kapitalistischen Gesellschaft, in der er lebte; schon 1927 schrieb er in seinem Buch "Die Zukunft einer Illusion" : "Es braucht nicht gesagt werden,
 
 

- 39 -

daß eine Kultur, welche eine so große Zahl von Teilnehmern unbefriedigt läßt und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd zu erhalten, noch es verdient" (Freud, Studienausgabe, Bd. IX, S. 146). Freud selbst wurde dann Opfer des Nationalsozialismus, der grausamsten Form jener Gesellschaftsordnung, die er kritisiert hatte: 1933 verbrannten die Nazis seine Bücher, und 1935, zwei Monate nach der Besetzung Wiens durch die Faschisten, mußte Freud nach London emigrieren. Dort starb er 23 Tage nach Beginn des zweiten Weltkriegs. (Über Werk und Wirkung S. Freuds vgl. auch das instruktive Nachwort von A. Thom in Freud 1954.)

Was ist Psychoanalyse, und welche Rolle spielt der Traum in ihr?

Freud selbst hat im Jahre 1923 folgende drei Bedeutungen von "Psychoanalyse" unterschieden (Freud 1923):

1. ein Verfahren zur Untersuchung seelischer Vorgänge, welche sonst kaum zugänglich sind,
2. eine Behandlungsmethode neurotischer Störungen, die sich auf diese Untersuchung gründet,
3. ein Lehrgebäude mit einer Reihe von psychologischen Einsichten, die allmählich zu einer neuen wissenschaftlichen Disziplin zusammenwachsen.
Diese drei Aspekte der Psychoanalyse sind selbstverständlich eng miteinander verflochten. Zum Zwecke der Darstellung der Freudschen Traumtheorie beschränken wir uns hier jedoch auf den zweiten Aspekt, auf die Behandlung neurotischer Störungen.

Neurosen sind körperliche oder psychischer Erkrankungen, deren Ursache in der erlebnisbedingten Störung der Person-Umwelt-Beziehung liegt. Um die Neurose zu behandeln, muß man das Erlebnis bzw. die Erlebnisse kennen, die zur Störung der Person- Umweltbeziehung geführt haben. Freud benutzte dazu die

- 40 -

Hypnose: Mit ihrer Hilfe gelang es ihm, das vom Kranken Vergessene wieder in Erinnerung zu bringen. Danach konnte dann der krankheitsauslösende Konflikt bzw. das Erlebnis mit dem Patienten besprochen werden. Freud gab jedoch die Hypnose bald auf, da es ihm erstens nicht gelang, alle Kranken zu hypnotisieren, und zweitens die Behandlungserfolge nur von kurzer Dauer waren. Freud ersetzte die Hypnose durch die Methode der freien Assoziation, d. h., er verlangte von seinen Patienten, auf alles bewußte Nachdenken zu verzichten und nur ihre spontanen Einfälle mitzuteilen, auch wenn sie scheinbar unsinnig, unwichtig oder anstößig waren. Die Erwartung, die Freud an diese neue Methode knüpfte, war, daß sich die freie Assoziation in Wirklichkeit als streng determiniert erweisen werde, und zwar in dem Sinne, daß nach Unterdrückung der bewußten Denkinhalte das unbewußte Material zum Vorschein käme. Dieses unbewußte Material sollte Freud auf die Spur des vom Kranken Vergessenen und damit zur Ursache s einer Neurose führen.

Sigmund Freuds Couch. Auf ihr lagen seine Patienten während der Analyse

Freud erkannte aber recht bald, daß der Patient der Aufdeckung des Vergessenen einen nicht unbeträchtlichen Widerstand entgegensetzte. Daraufhin nahm er nun an, daß dieselben Kräfte beim Patienten auch schon früher gewirkt und zur Verdrängung eines psychischen Konflikts geführt hatten. Auf Grund eben dieser Verdrängung ins Unbewußte wird dieser Konflikt zur Krankheitsursache, d. h., er verschafft sich nunmehr Ausdruck als neurotisches Symptom.

Im weiteren Verlauf seiner psychotherapeutischen Praxis gelangte Freud dann Zu der Auffassung, daß der Traum nicht anders gebaut ist als ein neurotisches Symptom. Er glaubte aber, daß im Traum die verdrängte Regung sich deutlicher Ausdruck im Wachleben. Genau aus diesem Grunde hielt Freud das Studium des Traums für den besten Zugang für die Erkenntnis des verdrängten Unbewußten und damit zur Behandlung von Neurosen (vgl. dazu s. 115f.). Wie stellte sich Freud nun den Mechanismus der

- 41 -

Traumentstehung vor, worin sah er das Wesen und die Funktion des Traums?

Zunächst ging Freud im Gegensatz zur Medizin und Psychologie seiner Zeit davon aus, daß jeder Traum einen Sinn hat. Die Fremdartigkeit, die häufig unseren Träumen anhaftet, ist Folge von Entstellungen, die an seinem ursprünglichen Sinn vorgenommen worden sind. Freud erarbeitet nun eine Technik` mit deren Hilfe wir vom Traum, wie wir ihn nach dem Erwachen erinnern – von Freud "manifester Trauminhalt" genannt – zu seinem versteckten Sinn, den "latenten Traumgedanken" gelangen können. Die latenten Traumgedanken sind in der Regel unbewußte Wünsche, die aus diesem oder jenem Grunde von der "Traumzensur" nicht zum Bewußtsein zugelassen werden. Die einzige Möglichkeit, diese Traumzensur zu passieren, ist die Entstellung der latenten Traumgedanken. Diese Entstellung besorgt die "Traumarbeit". Sie verdichtet mehrere Vorstellungen zu einer einzigen oder verschiebt die Betonung von einem Moment auf das andere. Die Traumarbeit kann auch zu Symbolen greifen. Doch dazu weiter unten.

Die Abbildung soll Freuds Traumauffassung etwas veranschaulichen. Sie bedarf aber einiger Erläuterungen:
 

 Schematische Darstellung von Freuds Traumauffassung

- 42 -

Erstens. Freud interessiert sich nicht für den Traum, wie wir ihn träumen, d. h. für den "realen Traum", sondern nur für den Traum, wie wir ihn nach dem Erwachen erinnern. Viele Kritiken seiner Traumtheorie gründen sich auf die Ignorierung dieser Tatsache. Es wird oft die Frage gestellt, ob die Erinnerung mit dem tatsächlich geträumten Traum übereinstimmt. Freud hat dieses Problem aus dem Weg geräumt, indem er den realen Traum überhaupt nicht berücksichtigt und sich nur für die Umsetzung der latenten Traumgedanken in die Traumerinnerung interessiert.

Zweitens. Sowohl manifester Trauminhalt als auch realer Traum sind keine unbewußten Phänomene. Nach Freud , sind lediglich die latenten Traumgedanken und die Traumarbeit unbewußte Prozesse.

Drittens. Die Technik, die uns vom manifesten Trauminhalt zu dem versteckten Sinn des Traums, zu den latenten Traumgedanken, führt, nannte Freud "Traumdeutung". Die Traumdeutung ist ein der Traumarbeit genau entgegengesetzter Prozeß. Kennt man also die Mechanismen der Traumarbeit, so ist jeder Traum deutbar. Aber gerade diese von Freud behaupteten Mechanismen sind Stark kritisiert worden, weil sie willkürlicher Auslegung Tür und Tor öffnen.

Wie sieht nun die Umsetzung von Freuds Traumtheorie in die Praxis aus?

Der Grundgedanke Freuds ist folgender: Hinter dem Traum, wie wir ihn nach dem Erwachen erinnern, d. h. hinter dem manifesten Trauminhalt, stehen die latenten Traumgedanken. Nach Freud bestehen diese vorwiegend aus unbewußten Wünschen.

Die Deutung des Traums muß den Vorgang der Traumarbeit rückgängig machen, d. h. Verdichtungen auflösen und Verschiebungen wieder zurechtrücken. Wenn ihr das gelingt, so kann sie die hinter dem manifesten Trauminhalt stehenden Vorstellungsinhalte erraten. Für Verdichtung und Verschiebung, die beiden wichtigsten Formen der Traumarbeit, finden sich bei Freud

- 43 -

zahlreiche Beispiele. So werden in einer "Sammel-" oder "Mischperson" die Züge zweier oder mehrerer Personen zu einem Traumbild verdichtet, scheinbar sinnlose Wortschöpfungen erweisen sich als Konglomerat mehrerer einzelner Worte u.ä. Bei der Verschiebung liegen die Dinge etwas Komplizierter und weniger offensichtlich. Im Mittelpunkt des manifesten Trauminhalts stehen andere Dinge als im Mittelpunkt der latenten Traumgedanken, ja manchmal erscheint der wesentliche Inhalt der Traumgedanken überhaupt nicht im manifesten Inhalt. Freud, der enge Beziehungen zwischen Traum und Witz

sah, hat die Verschiebung u. a. an folgendem Witz deutlich gemacht (Freud, Studienausgabe, Bd. IV, S. 49) Zwei Juden treffen in der Nähe des Badehauses zusammen: "Hast du genommen ein Bad?" fragt der eine. Wieso?" fragt der andere dagegen. "Fehlt eins?" Die Technik dieses Witzes liegt in der Verschiebung des Akzents von "baden" auf "nehmen". Hätte die Frage gelautet: "Hast du gebadet?", wäre diese Verschiebung nicht möglich gewesen. Im Traum passieren ganz ähnliche Dinge, nur daß sie uns selten witzig erscheinen und wir – solange wir träumen - keinen Anstoß an der Verschiebung nehmen.

Freud hat seine Theorie ausführlich an Hand Eines eigenen Traums erläutert. Es handelt sich um den "Traum von Irmas Injektion" (Freud, Studienausgabe, Bd. II, S. 126ff.). Seine Darstellung und Deutung nimmt bei Freud 14 Seiten ein. Wir wollen trotzdem versuchen, das wesentliche hier wiederzugeben :

1. Freuds Vorbericht

"Im Sommer 7 1895 hatte ich eine junge Dame psychoanalytisch behandelt, die mir und den Meinigen freundschaftlich sehr nahe stand. Man versteht es, daß solche Vermengung der Beziehungen zur Quelle mannigfacher Erregungen für den Arzt werden kann, zumal für den Psychotherapeuten. Das persönliche Interesse des Arztes ist größer, seine Autorität geringer. Ein Mißerfolg droht die alte Freundschaft mit den Angehörigen des

- 44 -

Kranken zu lockern. Die Kur endete mit einem teilweisen Erfolg, die Patientin verlor ihre hysterische Angst, aber nicht alle ihre somatischen Symptome. Ich war damals noch nicht recht sicher in den Kriterien, welche die endgültige Erledigung einer hysterischen Krankengeschichte bezeichnen, und mutete der Patientin eine Lösung zu, die ihr nicht annehmbar erschien. In solcher Uneinigkeit brachen wir der Sommerzeit wegen die Behandlung ab. – Eines Tages besuchte mich ein jüngerer Kollege, einer meiner nächsten Freunde, der die Patientin – Irma – und ihre Familie in ihrem Landaufenthalt besucht hatte. Ich fragte ihn, wie er sie gefunden habe, und bekam die Antwort: Es geht ihr besser, aber nicht ganz gut. Ich weiß, daß mich die Worte meines Freundes Otto oder der Ton, in dem sie gesprochen waren, ärgerten. Ich glaubte einen Vorwurf herauszuhören, etwa daß ich der Patientin zu viel versprochen hätte, und führte – ob mit Recht oder Unrecht – die vermeintliche Parteinahme Ottos gegen mich auf den Einfluß von Angehörigen der Kranken zurück, die, wie ich annahm, meine Behandlung nie gerne gesehen hatten. Übrigens wurde mir meine peinliche Empfindung nicht klar, ich gab ihr keinen Ausdruck. Am selben Abend schrieb ich noch die Krankengeschichte Irmas nieder, um sie, wie zu meiner Rechtfertigung, dem Dr. M., einem gemeinsamen Freunde, der damals tonangebenden Persönlichkeit in unserem Kreise, zu übergeben. In der auf diesen Abend folgenden Nacht (wohl eher am Morgen) hatte ich den nachstehenden Traum, der unmittelbar nach dem Erwachen fixiert wurde" (Freud, Studienausgabe, Bd. II, S.126).

2. Der Traum

"Eine große Halle – viele Gäste, die wir empfangen. – Unter ihnen Irma, die ich sofort beiseite nehme, um gleichsam ihren Brief zu beantworten, ihr Vorwürfe zu machen, daß sie die "Lösung" noch nicht akzeptiert. Ich sage ihr: Wenn du noch Schmerzen hast, so ist es wirklich nur deine Schuld. – Sie antwortet: Wenn du wüß-

- 45 -

test, was ich für Schmerzen jetzt habe im Hals, Magen und Leib, es schnürt mich zusammen. – Ich erschrecke und sehe sie an. Sie sieht bleich und gedunsen aus; ich denke, am Ende übersehe ich doch etwa Organisches. Ich nehme sie zum Fenster und schaue ihr in den Hals. Dabei zeigt sie etwas Sträuben wie die Frauen, die ein künstliches Gebiß tragen. Ich denke mir, sie hat es doch nicht nötig. – Der Mund geht dann auch gut auf, und ich finde rechts einen großen weißen Fleck, und anderwärts sehe ich an merkwürdigen krausen Gebilden, die offenbar den Nasenmuscheln nachgebildet sind, ausgedehnte weiße Schorfe. – Ich rufe schnell Dr. M. hinzu, der die Untersuchung wiederholt und bestätigt ... Dr. M. sieht ganz anders aus als sonst; er ist bleich, hinkt, ist am Kinn bartlos ... Mein Freund Otto steht jetzt auch neben ihr, und Freund Leopold perkutiert sie über dem Leibchen und sagt: Sie hat eine Dämpfung links unten, weist auch auf eine infiltrierte Hautpartie an der linken Schulter hin (was ich trotz des Kleides wie er spüre) ... M. sagt: Kein Zweifel, es ist eine Infektion, aber es macht nichts; es wird noch Dysenterie hinzukommen und das Gift sich ausscheiden ... Wir wissen auch unmittelbar, woher die Infektion rührt. Freund Otto hat ihr unlängst, als sie sich unwohl fühlte, eine Injektion gegeben mit einem Propylpräparat, Propylen ... Propionsäure ... Trimethylamin (dessen Formel ich fettgedruckt vor mir sehe) ... Man macht solche Injektionen nicht so leichtfertig ... Wahrscheinlich war auch die Spritze nicht rein" (Freud, ebenda).

3. Die Deutung des Traums durch Freud selbst (Freud, ebenda, S.128-140 und 293-297)

Ich mache Irma Vorwürfe, daß sie die Lösung nicht akzeptiert hat: ich sage: Wenn du noch Schmerzen hast, ist es deine eigene Schuld. "Ich merke ... an dem Satz, den ich im Traum zu Irma spreche, daß ich vor allem nicht Schuld sein will an den Schmerzen, die sie noch hat. Wenn es Irmas eigene Schuld ist, dann kann es

- 46 -

nicht meine sein. Sollte in dieser Richtung die Absicht des Traums zu suchen sein?"

Sie sieht bleich und gedunsen aus. "Meine Patientin war immer rosig. Ich vermute, daß sich hier eine andere Person unterschiebt."

Ich erschrecke im Gedanken, daß ich doch eine organische Affektation übersehen habe. "Wenn die Schmerzen Irmas organisch begründet sind, so bin ich ... zu deren Heilung nicht verpflichtet. Meine Kur beseitigt ja nur hysterische Schmerzen. Es kommt mir eigentlich so vor, als sollte ich einen Irrtum in der Diagnose wünschen; denn wenn der Vorwurf des Mißerfolgs such beseitigt."

Man macht solche Injektionen nicht so leichtfertig. "Hier wird der Vorwurf .. unmittelbar gegen Freund Otto geschleudert."

Wahrscheinlich war die Spritze auch nicht rein. Noch ein Vorwurf gegen Otto –"

Abschließend schreibt Freud dann: "Ich habe eine Absicht gemerkt, welche durch den Traum verwirklicht wird und die das Motiv des Träumens gewesen sein muß. Der Traum erfüllt einige Wünsche, welche durch die Ereignisse des letzten Abends (die Nachricht Ottos, die Niederschrift der Krankengeschichte) in mir rege gemacht worden sind. Das Ergebnis des Traums ist nämlich. daß ich nicht schuld bin sondern dem noch vorhandenen Leiden Irmas und daß Otto daran schuld ist. Nun hat mich Otto durch seine Bemerkung über Irmas unvollkommene Heilung geärgert, der Traum rächt mich an ihm, indem er den Vorwurf auf ihn selbst zurückwendet . . – Der Traum stellt einen gewissen Sachverhalt so dar, wie ich ihn wünschen möchte; sein Inhalt ist also eine Wunscherfüllung, sein Motiv ein Wunsch" (Freud, Studienausgabe, Bd.II, S.137, Hervorhebung von Freud).

Wir haben hier viele Details der Deutung weggelassen und uns nur auf das wesentliche beschränkt, . Jedoch wollen wir noch auf eine der Verdichtungen hinweisen, die Freud in diesem Traum bemerkt hat. Es handelt sich um die Hauptperson des Traums, die Patientin Irma. Freud schreibt dazu: "Die Stellung ..., in welcher ich sie

- 47 -

beim Fenster untersuche, ist von einer Erinnerung an eine andere Person hergenommen, von jener Dame, mit der ich meine Patientin vertauschen möchte ... Insofern Irma einen diphterischen Belag erkennen läßt, bei dem die Sorge um meine älteste Tochter erinnert wird, gelangt sie zur Darstellung dieses meines Kindes, hinter welchem, durch die Namensgleichheit mit ihm verknüpft, die Person einer durch Intoxikation [5] verlorenen Patientin sich verbirgt. Im weiteren Verlauf des Traums wandeIt sich die Bedeutung von Irmas Persönlichkeit (ohne daß ihr im Traum gesehenes Bild sich änderte) ; sie wird zu einem der Kinder, die wir in der öffentlichen Ordination des Kinder-Krankeninstituts untersuchen .. Durch das Sträuben beim Mundöffnen wird dieselbe Irma zur Anspielung auf eine andere, einmal von mir untersuchte Dame, ferner in demselben Zusammenhang auf meine , eigene Frau. In den krankhaften Veränderungen, die ich, in ihrem Hals entdecke, habe ich überdies Anspielungen auf eine ganze Reihe von noch anderen Personen zusammengetragen" (Freud, Studienausgabe, Bd. II. S. 294).

Freuds These vom Traum als Wunscherfüllung ist viel kritisiert worden. Tatsächlich ist sie ein äußerst schwacher, Punkt in seiner Theorie und kann nur durch Verwendung recht spekulativer Hypothesen aufrechterhalten, werden. Als Argument für seine Auffassung verwendet Freud die Träume von Kindern, in denen tatsächlich häufig Wünsche zum Ausdruck kommen. Kinderträume geben zwar keine Rätsel zu lösen, sind aber natürlich unschätzbar für den Erweis, daß der Traum seinem innersten Wesen nach eine Wunscherfüllung bedeutet" (Freud, Studienausgabe, Bd. II, S. 145). Freud illustriert es mit einem Traum seiner Tochter Anna: "Mein jüngstes Mädchen, damals neunzehn Monate alt, hatte eines morgens erbrochen und war darum den Tag über nüchtern erhalten worden. In der Nacht, die diesem Hunger folgte, hörte man sie erregt aus dem Schlaf rufen:

- 48 -

Anna F.eud, Er(d)beer, Hochbeer, Eier(s)peis, Papp. Ihren Namen gebrauchte sie damals, um die Besitzergreifung auszudrücken; der S Speisezettel umfaßte wohl alles, was ihr als begehrenswerte Mahlzeit erscheinen mußte" (ebenda, 5.148).

Solche "Kinderträume" können natürlich auch Erwachsene haben. Es kann also nicht bestritten werden, daß es Träume gibt, die eine Wunscherfüllung darstellen. Freuds Behauptung geht aber weiter: Für ihn sind alle Träume Wunschträume. Dem Argument, es gebe ja auch Angstträume, begegnet Freud mit der Bemerkung, daß seine Theorie ja nicht auf der Würdigung des manifesten Trauminhalts, sondern auf dessen Deutung beruhe. und mit Hilfe dieser Deutung gelingt es Freud tatsächlich , auch aus jedem Angsttraum einen Wunschtraum zu machen. Dabei bleibt natürlich die Objektivität häufig auf der Strecke.

Die Hauptfunktion des Traums ist nach Freud die des Hüters des Schlafs. Einerseits werden äußere Reize in den Traum so eingebaut, daß sie nicht zum Erwachen führen. Freud führt als Beispiel u. a. Napoleon an, der das Geräusch einer explodierenden Höllenmaschine in einen Schlachtentraum verwebt. Wir alle haben sicher schon Ähnliches mit dem Weckerklingeln erlebt. Der Traum erfüllt seine Rolle als Hüter des Schlafs, aber nicht nur durch den Einbau äußerer Reize in das Traumgeschehen, sondern auch durch die Erfüllung unbewußter Wünsche, der latenten Traumgedanken. Würden diese Wünsche nicht als erfüllt dargestellt, so würden sie, so Freud, einen ständigen Reiz darstellen, der keinen ruhigen Schlaf zuläßt.

Man kann nicht über Freuds Traumtheorie reden, ohne ein paar Bemerkungen über die Traumsymbolik zu machen. Freud hat an vielen Stellen seiner Werke darauf aufmerksam gemacht, daß die Traumsymbolik keine Erfindung der Psychoanalyse ist, sondern sich in Märchen, Mythen, Schwänken, Witzen, in der Folklore und auch in Dichtung und Alltagssprache auffinden läßt. Schon vor Freud hatte sich besonders Scherner (1861) mit Symbo-

- 49 -

len in Träumen beschäftigt. Freud knüpfte daran an, und – unter seinen niedergeschriebenen Traumdeutungen findet sich kaum eine, in der nicht auf Symbole zurückgegriffen` griffen wird. Besondere Bedeutung innerhalb der Freudschen Psychoanalyse kommt den Sexualsymbolen zu. – Freud schreibt: "Alle in die Länge reichenden Objekte, Stöcke, Baumstämme, Schirme .. , alle länglichen und scharfen Waffen: Messer, Dolche, Piken, wollen das männliche Glied vertreten ... Dosen, Schachteln, Kästen, Schränke, Öfen entsprechen dem Frauenleib, aber auch Höhlen, Schiffe und alle Arten von Gefäßen" (Freud, Studienausgabe, Bd. II, S. 348). Für die Stichhaltigkeit der weiblichen Sexualsymbole führt Freud Redewendungen aus der Alltagssprache an wie: "alte Schachtel". "Frauenzimmer" usw. Der Geschlechtsakt wird nach Freud durch das Steigen auf Leitern, Treppen, Stiegen, durch Flugträume und Eisenbahnfahren symbolisiert. Männliche Masturbation werde im Traum durch Zahnausfall dargestellt. Auch hier weist Freud auf den Volksmund Hin: "sich einen ausreißen" ist eine vulgäre Umschreibung der Masturbation.

Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Vorstellung kannte Freud aber auch Symbole außerhalb der Sexualsphäre und hat sich bei der Deutung von Träumen keineswegs nur auf Sexualsymbole beschränkt. So wurden zu Freuds Zeiten die Eltern des Träumers Häufig durch Kaiser und Kaiserin, der Träumer selbst durch Prinz oder Prinzessin symbolisiert. Der Vater wird oft von einer Autoritätsfigur vertreten (Freud nennt Goethe als Beispiel). Der Tod wird nach Freud häufig symbolisiert durch das Nichterreichen eines Eisenbahnzuges oder auch durch ..Abreise" Interessant ist auch Freuds Vermutung, daß in, Träumen auftretende für e Städte Symbole für unerreichbare Ziele sind (Freud, Studienausgabe, Bd. II, S. 206).

Trotz der Ausführlichkeit, mit der Freud an vielen Stellen seiner Werke auf die Traumsymbolik eingeht, ist es aber keineswegs so, daß Freud der Symboldeutung Vorrang eingeräumt hätte, im Gegenteil: Er warnte mehr-

- 50 -

fach vor ihrem Mißbrauch. So schrieb er 1909 in der zweiten Auflage seiner "Traumdeutung": "möchte ich aber nachdrücklich davor warnen, die Bedeutung der Symbole für die Traumdeutung zu überschätzen, etwa die Arbeit der Traumübersetzung auf Symbolübersetzung einzuschränken und die Technik der Verwertung von Einfällen des Träumers aufzugeben ... praktisch wie theoretisch verbleibt aber der Vorrang dem Verfahren, das den Äußerungen des Träumers die entscheidende Bedeutung beilegt, während die von uns vorgenommene Symbolübersetzung als Hilfsmittel hinzutritt" (Freud, Studienausgabe, Bd. II, S. 354). Und 1916 in den "Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse" lesen wir: "Die auf Symbolkenntnis beruhende Deutung ist keine Technik, welche die assoziative ersetzen oder sich mit ihr messen kann. Sie ist eine Ergänzung zu ihr und liefert nur in sie eingefügt brauchbare Resultate" (Freud, Studienausgabe, Bd. I, S. 161 ).

In der "Neuen Folge" dieser Vorlesungen ist Freud dann außerdem der Behauptung entgegengetreten, deute Träume auf ausschließlich sexueller Ebene. Er schrieb: "Einige Formeln sind allgemein bekannt geworden, darunter solche, die wir nie vertreten haben, wie der Satz, alle Träume seien sexueller Natur ...` (Freud, Studienausgabe, Bd. I, 5.452).

Freuds Traumauffassung aus heutiger Sicht

Thomas Mann und Stefan Zweig nannten Sigmund Freud einen "Wegweiser in bisher ungeahnte Welten der menschlichen Seele", und Albert Einstein sah in ihm einen der "größten Lehrer" seiner Generation (vgl. Grotjahn 1976, S.131 ff.). Trotzdem hält ein großer Teil der heutigen Psychologen seine Theorien für spekulativ und unhaltbar. Tatsächlich sind viele Versuche zur experimentellen Überprüfung Freudscher Hypothesen zuungunsten der Psychoanalyse ausgegangen: Entweder

- 51 -

wurden die Behauptungen widerlegt oder erwiesen sich als überhaupt nicht überprüfbar (vgl. Kiener 1978).

Wie sieht diese Situation speziell in bezug auf Freuds Traumtheorie aus?

Am leichtesten überprüfbar ist die Hypothese vom Traum als "Hüter des Schlafs". Wenn der Traum tatsächlich die Funktion hat, den Schlaf fortzusetzen, dann müßte die Weckschwelle während des Träumens erhöht sein. Tatsächlich konnte im Jahre l972 experimentell nachgewiesen werden, daß der Mensch während des i ; Traums schwerer zu wecken ist als in den Schlafphasen ohne Traum (Günther 1972). Damit ist natürlich nicht automatisch Freuds Behauptung mit bestätigt, daß diese "Hüterfunktion" des Traums durch Wunscherfüllung gewährleistet wird.

Die Hypothese Freuds, daß in jedem Traum eine Anknüpfung an die Erlebnisse des letztabgelaufenen Tages aufzufinden ist, konnte ebenfalls experimentell bestätigt werden. So zeigte sich z. B., daß in den Träumen von Personen, die bestimmten Versuchen unterzogen worden sind, regelmäßig Elemente dieser Versuchssituation am vorhergehenden Tag enthalten sind (Pötzl 1917, Domhoff und Kamiya 1964, Cartwright l968, Bakeland l970). Werden z. B. den Versuchspersonen Filme vor dem Einschlafen projiziert, so finden sich Elemente der Filmhandlung in deren Träumen wieder.

Der Grundgedanke Freuds allerdings, die Idee von hinter dem manifesten Trauminhalt stehenden unbewußten Vorstellungen, scheint indessen kaum experimentell überprüfbar. Dieser Gedanke ist wohl plausibel, steht und fällt jedoch mit der Anerkennung bzw. Ablehnung der Existenz des Unbewußten. Gestritten wird über diesen Punkt seit mehr als hundert Jahren, ohne daß sich dabei jedoch eine allgemein anerkannte Lösung abzeichnete. Einer der schärfsten Kritiker des Unbewußten, speziell der unbewußten Traumarbeit, ist der Schweizer Psychotherapeut Medard Boss. Er wirft Freud sogar vor, er habe diese Dinge erfunden, um die Träume in seine psychoanalytische Theorie einbeziehen

- 52 -

zu können. Die Schlußfolgerung von Boss lautet: "Freuds gesamte Traumauffassung ... ruht deshalb auf einem rein erfundenen Fundament" (Boss l976, S. l95).

Der prominenteste Kritiker des Unbewußten war Max Planck. In seiner kleinen Schrift "Scheinprobleme der Wissenschaft" hatte er geschrieben: "Eine Wissenschaft des Unbewußten oder Unterbewußten gibt es nicht. Sie wäre eine contradictio in adjecto, ein Widerspruch in sich. Was unterbewußt ist, weiß man nicht. Daher sind alle Probleme, die sich auf das Unterbewußtsein beziehen, Scheinprobleme" (Planck l947, S. l7). Der große Physiker wirft hier Unbewußtes und Unterbewußtes etwas durcheinander (zu deren Unterscheidung vgl. Helm 1965 und Arnold 1955). Außerdem hat die Entwicklung der Psychologie in den letzten Jahrzehnten gezeigt, daß wir ohne die Kategorie des Unbewußten nicht auskommen. Darauf verweisen such sowjetische Psychologen (Bassin 1974, Prangishvili et al. 1975, Sintschenko und Mamardaschwili 1951).

Gleichsam als vorläufiges Fazit der Untersuchungen der letzten Jahre schreiben Sintschenko und Mamardaschwili (1981, S. 257) : "Es gibt heute keinen Zweifel darüber, daß die psychologischen Ideen Freuds und der Neofreudianer starken Einfluß auf die Entwicklung der Erforschung höherer psychischer Prozesse hatten." Besonders die Freudsche Unterscheidung von Bewußtem und Unbewußtem habe "großen Einfluß auf die Entwicklung der ganzen psychologischen Wissenschaft" ausgeübt.