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Vorwort

Ernst Federn hat einmal die biographische Attitüde kritisiert, "an und für sich triviale Ereignisse als bedeutsam darzustellen, nur weil sie sich im Leben Freuds ereigneten." (Federn 1986, S. 263). Ich bin mir durchaus im klaren, daß auch die Beschäftigung mit Freuds Reisen diesem Vorwurf nur schwer entgehen kann. Allerdings gibt es einige Umstände, die ein solches Unterfangen nicht als völlig belanglos erscheinen lassen. Erstens hatte das Reisen Freuds Leben eine subjektive Bedeutung, die weit über den normalen Rahmen hinausging, zweitens bestehen mittelbare und unmittelbare Beziehungen zwischen Freuds Reisen und der Psychoanalyse, und drittens sind Freuds Schilderungen von unterwegs außerordentlich aufschlußreich auch für die Art und Weise, in der er die Welt wahrnahm.

Freud sah alles durch die Brille der Vergangenheit: Die Ursachen für neurotische Symptome des erwachsenen Menschen suchte er in der frühen Kindheit; die Kultur der Gegenwart erklärte er aus bestimmten Ereignissen in der Frühgeschichte der Menschheit, und sein wichtigstes Hobby war Archäologie und Altertumswissenschaft. Der Psychologe und Altertumswissenschaftler Freud schreibt z. B. über
Träume: "Sie stehen zu den Kindheitserinnerungen, auf die sie zurückgehen, etwa in demselben Verhältnis wie
 
 

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manche Barockpaläste Roms zu den antiken Ruinen, deren Quadern und Säulen das Material für den Bau in modernen Formen hergegeben haben." (Freud 1900, S. 473).

Freud hat nach eigenem Zeugnis "mehr Archäologie als Psychologie gelesen" (Freud 1960, S. 399) und erhebliche finanzielle Mittel in seine Antiquitätensammlung gesteckt (ebenda; vgl. auch Weiß/Weiß 1984). Auf der anderen Seite verschlangen auch seine Reisen erhebliche Geldmengen, doch tat es Freud nie um das in Antiquitäten oder Reisen investierte Geld leid. Schon nach seiner ersten größeren Italienreise im Jahre 1896 hatte Freud an Wilhelm Fließ geschrieben: "Mein Zimmer habe ich jetzt mit Gipsen der Florentiner Statuen geschmückt. Es war eine Quelle außerordentlicher Erquickung für mich; ich gedenke reich zu werden, um diese Reisen zu wiederholen. Ein Kongreß auf italischem Boden! (Neapel, Pompeji)." (Freud 1986, S. 226). In dieser Briefstelle deutet sich darüberhinaus auch an, daß Freud Reisen und Altertumswissenschaft gern mit seiner dritten großen Leidenschaft, der Psychologie, verbunden hätte. Die "Kongresse" mit Fließ waren ja auch der Diskussion von Freuds Gedanken und Ideen gewidmet. Und im Jahre 1896 waren die "Studien über Hysterie" längst erschienen und Freuds Traumtheorie war im wesentlichen auch schon fertig. Über diese Dinge hätte er mit Fließ am liebsten in Neapel oder Pompeji gesprochen. Freuds Ideal war, diese seine drei Leidenschaften Psychoanalyse, Archäologie und Reisen miteinander zu verbinden, wenigstens zeitlich und räumlich. Später hat er sich dann auch Sándor Ferenczi als Reisegefährten gewählt und z.B. die Besichtigung der Tempel in Segesta und Selinunte durch Gespräche über psychoanalytische Themen ergänzt. In seinem Nachruf auf Sándor Ferenczi schreibt Freud über die gemeinsamen Italienreisen, daß "mancher
 
 

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Aufsatz, der später unter seinem oder meinem Namen in die Literatur einging, . . dort in unseren Gesprächen seine erste Gestalt" erhielt (Freud 1933, S. 267). Doch über zeitliche und räumliche Zusammenhänge hinaus sah Freud auch methodologische Parallelen zwischen seinen Hobbys. So weist er schon 1896 in einem Vortrag vor dem Wiener "Verein für Psychiatrie und Neurologie" auf die Analogie zwischen dem Vorgehen des Archäologen und dem des Arztes, der hysterische Symptome zu behandeln hat, hin: "Nehmen Sie an, ein reisender Forscher käme in eine wenig bekannte Gegend, in welcher ein Trümmerfeld mit Mauerresten, Bruchstücken von Säulen, von Tafeln mit verwischten und unlesbaren Schriftzeichen sein Interesse erweckte. Er kann sich damit begnügen, zu beschauen, was frei zutage liegt, dann die in der Nähe hausenden, etwa halbbarbarischen Einwohner ausfragen, was ihnen die Tradition über die Geschichte und Bedeutung jener monumentalen Reste kundgegeben hat, ihre Auskünfte aufzeichnen und weiterreisen. Er kann aber auch anders die Anwohner für die Arbeit mit diesen Werkzeugen bestimmen, mit ihnen das Trümmerfeld in Angriff nehmen, den Schutt wegschaffen und von den sichtbaren Resten aus das Vergrabene aufdecken. Lohnt der Erfolg seine Arbeit, so erläutern die Funde sich selbst; die Mauerreste gehören zur Umwallung eines Palastes oder Schatzhauses, aus den Säulentrümmern ergänzt sich ein Tempel, die zahlreich gefundenen, im glücklichen Falle bilinguen Inschriften enthüllen ein Alphabet und eine Sprache, und deren Entzifferung und Übersetzung ergibt ungeahnte Aufschlüsse über die Ereignisse der Vorzeit, zu deren Gedächtnis jene Monumente erbaut worden sind. Saxa Loquuntur !" (Freud 1896, S. 54).

Die Anregung zu dieser Analogie mag Freud aus seiner
 
 

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Beschäftigung mit dem Schicksal Pompejis erhalten haben (Abb. 1: Luftaufnahme Pompejis) Er besaß die 4. Auflage von Overbecks "Pompeji) " in seinen Gebäuden, Alterthümern und Kunstwerken (Overbeck 1884), in der besonders das vierte Kapitel dahingehend argumentiert, daß "die verschüttete Stadt als solche eigentlich nie ganz unkenntlich gewesen sein kann, und namentlich das Amphitheater deutlich genug als eine kraterförmige Vertiefung im Boden sich zu erkennen gab." (Overbeck 1884, S. 25). Außerdem sei es "immerhin auf fallend genug, daß man in den späteren Jahrhunderten, in denen mancher zufälliger Fund gemacht wurde, nicht zu einer weiteren Nachforschung sich anschickte" (ebenda, S. 26).

Auch in der Geschichte der Psychologie hatte es viele wertvolle Andeutungen gegeben, viele Philosophen und Dichter waren dem Wesen des Unbewußten nahegekommen. Und doch gab es keine Topographie der menschlichen Psyche, die in Freuds Augen als Grundlage der Psychologie hätte dienen können. Für ihn war ein der Archäologie analoges Vorgehen die einzig erfolgversprechende Methode, eine solche Topographie zu erstellen. Über vierzig Jahre nach der ersten Erwähnung der Analogie zwischen Archäologie und psychoanalytischer Arbeit, nachdem Freud u.a. Griechenland besucht und fast zwanzig Italienreisen hinter sich hatte, kommt er nochmals auf sie zurück:1 "... wie der Archäologe aus stehengebliebenen Mauerresten die Wandungen des Gebäudes aufbaut, aus Vertiefungen im Boden die Anzahl und Stellung von Säulen bestimmt, aus den im Schutt gefundenen Resten die einstigen Wandverzierungen und Wandgemälde wiederherstellt, genauso geht der Analytiker vor, wenn er seine Schlüsse aus Erinnerungsbrocken, Assoziationen und aktiven Äußerungen des Analysierten zieht." (Freud 1937, S. 397).
 


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Das Zusammentreffen der drei Leidenschaften Freuds - Psychoanalyse, Archäologie und Reisen - ist nicht zufällig: Das methodologische Prinzip, die Geschichte als Schlüssel zur Gegenwart zu begreifen, zieht sich durch Freuds gesamtes Leben und Werk. Hier ein Beispiel dafür, wie eng für Freud Archäologie, Psychoanalyse und Reisen verbunden waren: Am 28. Mai 1899 schreibt er an Wilhelm Fließ: "Ich habe mir Schliemanns Ilios geschenkt und mich an seiner Kindheitsgeschichte gefreut. Der Mann war glücklich, als er den Schatz des Priamos fand, denn Glück gibt es nur als Erfüllung eines Kinderwunsches. Dabei fällt mir ein, daß ich heuer nicht nach Italien reisen werde." (Freud 1986, S. 387). Hier sind in konzentrierter Form alle drei großen Leidenschaften bzw. Interessen Freuds angesprochen: 1. Die Archäologie er schenkt sich Schliemanns "Ilios"; 2. Die Psychoanalyse ihn interessiert Schliemanns Kindheitsgeschichte und die Wunscherfüllung; 3. das Reisen seine erste Assoziation ist "Italien."

Die Schwierigkeiten, die sich einem Versuch, den Komplex "Reisen" in Freuds Leben zu untersuchen entgegenstellen, sind erheblich. Bisher hat lediglich Ernest Jones in seiner Freud-Biographie (Jones 1984) und in einem kleinen Aufsatz über Freuds frühe Reisen (Jones 1954) etwas dazu veröffentlicht. Er war einer der wenigen Privilegierten, der Einblick in die Briefe hatte, die Freud von unterwegs an seine Familie schrieb. Stimmen Jones' Angaben, daß Freud täglich Briefe nach Hause sandte (Jones 1984, Bd. 1, S. 392; Bd. 2, S. 29f. u. S. 462), so müssen für den Zeitraum von 1894 bis 1923 über 400 Reisebriefe existieren.2 Veröffentlicht sind aber lediglich 13 davon!3 Selbstverständlich gibt es auch Reisebriefe an Kollegen und Freunde. An erster Stelle wären da die Briefe an Wilhelm Fließ zu nennen, die für Freuds frühe Reisen zwischen
 
 

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1894 und 1902 die wichtigste veröffentlichte Quelle darstellen. Außerdem schrieb Freud von unterwegs auch an Abraham, Reik, Ferenczi, Rank, Andreas-Salomé, Jung, Pfister u.a. Etwa 40 solcher Briefe finden sich in den puplizierten Briefwechseln. Da die veröffentlichten und zugänglichen Reisebriefe nur einen Bruchteil der insgesamt existierenden darstellen, muß häufig auf ergänzende Informationen zurückgegriffen werden. Das sind einmal jene Schriften Freuds, in denen von seinen Reisen die Rede ist, vor allem "Die Traumdeutung", "Zur Psychopathologie des Alltagslebens" und der Brief an Romain Rolland aus dem Jahre 1936 mit dem Untertitel "Eine Erinnerungsstörung auf der Akropolis" . Außerdem gibt es eine Reihe von Sekundärquellen, d.h. Informationen, die nicht von Freud selbst stammen, aber zur Rekonstruktion seiner Reisen und ihrer Begleitumstände beitragen können. Zu nennen wären da z.B. Reisehandbücher, Kursbücher und in Freuds Besitz befindliche Literatur über Gegenden und Orte, die er zu besuchen beabsichtigte oder schon besucht hat. Besonders bemerkenswert in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß Freud sich schon im Jahre 1875, wahrscheinlich kurz vor seiner England-Reise, eine "Anleitung zu wissenschaftlichen Beobachtungen auf Reisen" zugelegt hatte (Neumayer 1875).4

Doch auch trotz der Heranziehung von Sekundärquellen wird eine Arbeit zu Freuds Reisen solange Fragment bleiben, bis alle seine Reisebriefe veröffentlicht, bzw. wenigstens zur Benutzung freigegeben sind. Es ist zu hoffen, daß das in nicht allzu ferner Zukunft geschehen wird. Eine eventuelle zweite Auflage dieses Buches würde davon erheblich profitieren.

Bleibt mir noch, all jenen zu danken, die mir mit Rat und Tat bei der Arbeit an diesem Buch geholfen haben: An
 
 

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erster Stelle Herrn Professor Gerhard Fichtner, dessen Datenbank zur Psychoanalyse am Institut für Geschichte der Medizin in Tübingen mir viel mühevolle Suche erspart hat; des weiteren Herrn Dimiter Alexiew für die Herstellung der reproduzierbaren Abzüge und nicht zuletzt Herrn Dr. Gerd Kimmerle und dessen edition diskord, die das Risiko eines ausgefallenen Themas auf sich genommen haben.
 

Sofia, im Februar 1989
Christfried Tögel
 

Anmerkungen

1 Zu Freuds Verwendung der Analogie zwischen Psychoanalyse und Archäologie vgl. auch Weiß/Weiß 1989.
2 Zwischen 1894 und 1923 fallen Freuds größere Reisen ohne Familie. In der Schätzung sind nicht Briefe enthalten, die Freud von Kongressen oder ähnlichen Gelegenheiten nach Hause schrieb.
3 Zwölf davon in Freud (1960) und einer in Jones (1984), Bd. 2, S. 36.
4 Diese "Anleitung" enthält den Besitzvermerk "Sigismund Freud 1875" (vgl. Fichtner 1988).
 
 

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